Urteilsanalyse
Berücksichtigung eines Restitutionsgrunds nach § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO in der Revisionsinstanz
Urteilsanalyse
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Wird der Rechtsstreit durch das Urteil des Revisionsgerichts insgesamt beendet, können neue Tatsachen und Beweismittel, die einen Restitutionsgrund nach § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO darstellen, nach einem Urteil des BGH vom 17.09.2020 grundsätzlich nicht entgegen § 559 ZPO berücksichtigt werden; der Grund der Prozesswirtschaftlichkeit allein genügt für die Zulassung des neuen Vorbringens nicht.

4. Nov 2020

Anmerkung von
Rechtsanwalt beim BGH Dr. Guido Toussaint, Toussaint & Schmitt, Karlsruhe

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 22/2020 vom 16.10.2020

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Sachverhalt

Die beklagte Partnerschaft von Rechtsanwälten fungierte aufgrund eines „Treuhandvertrages“ mit der Emittentin als Sicherheitentreuhänderin für Hypothekenanleihen einer AG. Die Emittentin zahlte die Anleihen nach Fälligkeit nicht zurück, über ihr Vermögen wurde ein Insolvenzverfahren eröffnet. Die Kläger, die Anleihen erworben hatten, begehren Ersatz ihres Zeichnungsschadens Zug um Zug gegen Abtretung der Rechte aus den von ihnen erworbenen Anleihen. Sie haben im Wesentlichen geltend gemacht, die Beklagte habe es pflichtwidrig unterlassen, sie ua über ihre anderweitige Geschäftsverbindung mit der Emittentin und den damit einhergehenden Interessenkonflikt aufzuklären. Das OLG hat der Klage – in Abänderung des klageabweisenden Urteils des LG – überwiegend stattgegeben. Es hat angenommen, die Sicherheitentreuhand sei mit rechtsberatenden Tätigkeit zugunsten der Anleger verbunden, weshalb die Beklagte durch Abschluss des Treuhandvertrags gegen das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen gem. § 43a IV BRAO verstoßen habe. Über die hieraus folgende Nichtigkeit des Treuhandvertrages, aber auch über den insoweit bestehenden Interessenkonflikt (sowie andere Umstände) habe die Beklagte aufklären müssen.

Die Beklagte hat zunächst Nichtzulassungsbeschwerde und nach deren Erfolg Revision gegen das Berufungsurteil eingelegt. In ihrer Revisionserwiderung haben sich die Kläger auf ihnen erst jetzt zugänglich gewordene Anwaltsverträge zwischen der Emittentin und der Beklagten berufen und ausgeführt, daraus ergebe sich, dass die Beklagte über die Vertretung im Prospektbilligungsverfahren hinaus weitere Beratungstätigkeiten für die Emittentin erbracht habe, die einen aufklärungspflichtigen Interessenkonflikt begründeten.

Entscheidung: Kein relevanter Interessenkonflikt nach dem für den Revisionsrechtszug maßgebenden Verfahrensstoff

Der BGH hat auf die Revision der Beklagten das klageabweisende Urteil des LG wiederhergestellt. Die Beklagte habe keine Pflichten aus einem (vor-)vertraglichen Schuldverhältnis verletzt. Aufklärungspflichten ergäben sich – wie im Einzelnen umfangreich ausgeführt wird – weder aus einem Verstoß gegen das Verbot des § 43a IV BRAO noch aus einem für die Zeichnung der Anleihen relevanten Interessenkonflikt; die Entscheidung des Berufungsgerichts stelle sich – wie ebenfalls im Einzelnen umfangreich ausgeführt wird – auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO).

Soweit sich die Kläger in ihrer Revisionserwiderung auf die Anwaltsverträge beriefen, handele es sich um neuen Vortrag, der im Revisionsverfahren gem. § 559 I 1 ZPO nicht berücksichtigt werden könne. § 559 ZPO diene dem Streben nach Rechtssicherheit und Verfahrensbeschleunigung. Die Vorschrift solle vermeiden, dass das Revisionsgericht mit tatsächlichen Würdigungen in der Sache selbst befasst werde, und der Gefahr vorbeugen, dass rechtsmissbräuchlich der Eintritt der Rechtskraft eines Urteils gehemmt oder die Vollstreckung eines Urteils des Berufungsgerichts hinausgezögert werde. Eine Berücksichtigung komme auch nicht in Betracht, soweit sich die Kläger auf den Restitutionsgrund nach § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO beriefen. Dieser rechtfertige nach der bisherigen Rspr., an der festzuhalten sei, eine Berücksichtigung neuer Tatsachen im Revisionsverfahren nur ausnahmsweise, wenn höhere Belange der Allgemeinheit und der ihr dienenden Rechtspflege dies forderten. Dies treffe etwa zu, wenn in demselben anhängigen Verfahren ohne Berücksichtigung des neuen Vorbringens noch weitere unrichtige Urteile ergingen, die nur durch eine Restitutionsklage beseitigt werden könnten. Werde der Rechtsstreit hingegen durch das Urteil des Revisionsgerichts insgesamt beendet, könnten neue Tatsachen und Beweismittel, die einen Restitutionsgrund nach § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO darstellten, grundsätzlich nicht entgegen § 559 ZPO berücksichtigt werden; der Grund der Prozesswirtschaftlichkeit allein genüge für die Zulassung des neuen Vorbringens nicht. In diesen Fällen müsse die Partei die Restitutionsklage erheben, damit die neuen Tatsachen Berücksichtigung finden könnten. Somit hänge es von der jeweiligen verfahrensrechtlichen Lage des Rechtsstreits ab, ob das neue Vorbringen zugelassen werden kann. Im Revisionsverfahren erfordere die Prozesswirtschaftlichkeit im Falle des § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO nicht die Berücksichtigung des neuen tatsächlichen Vorbringens. Gem. § 584 I ZPO sei die Restitutionsklage, wenn der Rechtsstreit die Revisionsinstanz erreicht habe, nämlich regelmäßig beim Berufungsgericht zu erheben, und dieses wäre im Allgemeinen auch bei einer Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht zur Entscheidung berufen. Die Verweisung auf den Weg der Restitutionsklage führe deshalb insgesamt nicht zu einer erheblichen Verzögerung. Zudem stünde die Partei, die sich auf den Restitutionsgrund des § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO berufe, im Falle einer Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht ungerechtfertigt besser als bei Erhebung einer Restitutionsklage. Denn im Restitutionsverfahren sei die Einführung weiterer neuer, nicht im Zusammenhang mit der nachträglich aufgefundenen Urkunde stehender Tatsachen und Beweismittel regelmäßig ausgeschlossen. Demgegenüber führe die Zurückverweisung der Sache zur Prüfung der tatsächlichen Voraussetzungen des Restitutionsgrundes an das Berufungsgericht zur erneuten Eröffnung des Berufungsrechtszugs, in dem über den Restitutionsgrund hinaus in den Grenzen des § 531 II ZPO neue Angriffs- und Verteidigungsmittel zulässig sein könnten. Die Gefahr, dass innerhalb desselben Rechtsstreits einander widersprechende Urteile ergehen könnten, wie etwa im Falle von Klage und Widerklage oder im Verhältnis zwischen Grund- und Betragsverfahren, bestehe vorliegend nicht. Vielmehr sei der vorliegende Rechtsstreit mit der Entscheidung des Senats insgesamt beendet. Die Kläger seien zur Geltendmachung des neuen Vortrags auf das Restitutionsverfahren zu verweisen.

Praxishinweis

1. Für die Behandlung von Tatsachen, die bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen nicht vorgebracht worden sind (auch: nicht vorgebracht werden konnten), ist nach dem Zeitpunkt des Eintretens dieser Tatsachen zu differenzieren:

  • Bereits vor Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz entstandene (und nur – auch aufgrund Unkenntnis – nicht vorgetragene) Tatsachen können nach § 559 I 1 ZPO in der Revisionsinstanz nicht berücksichtigt werden; mit ihnen ist die Partei präkludiert (BGH NJW-RR 2017, 676 mAnm Toussaint FD-ZVR 2017, 388490). Sie können allenfalls – unter den Voraussetzungen von § 580 ZPO – noch zum Gegenstand einer Restitutionsklage gemacht werden (zur Frage, ob wenigstens in solchen Fällen doch noch eine Berücksichtigung im Revisionsverfahren in Betracht kommt, vgl. 2.).
  • Nach Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (auch während des Revisionsverfahrens) eingetretene Tatsachen sind nach dem Wortlaut des § 559 I 1 ZPO ebenfalls nicht in der Revisionsinstanz zu berücksichtigen. Mit ihnen ist die Partei allerdings – selbstverständlich – nicht präkludiert, vielmehr können sie anschließend noch zum Gegenstand einer Vollstreckungsabwehrklage gemacht werden (vgl. § 767 II ZPO). Aus Gründen der (iÜ „schillernden“) Prozesswirtschaftlichkeit wird aber in einschränkender Auslegung des § 559 I 1 ZPO dann ausnahmsweise eine Berücksichtigung solcher nachträglich eingetretenen Tatsachen in der Revisionsinstanz zugelassen, wenn aus Sicht der Revisionsinstanz der Erfolg einer nachfolgenden Vollstreckungsabwehrklage sicher erscheint (ihre jetzige Nichtberücksichtigung mithin wenig Sinn macht). Dies ist nach der Rspr. im Hinblick darauf, dass das Revisionsgericht selbst keine Tatsachenfeststellungen trifft, (nur) dann anzunehmen, wenn sie unstreitig sind bzw. ihr Vorliegen in der Revisionsinstanz ohnehin von Amts wegen zu beachten ist (wie zB gerichtsbekannte anderweitige Gerichts- oder Verwaltungsentscheidungen, die die Parteien binden) und (!!!) schützenswerte Belange der von der Berücksichtigung betroffenen Gegenseite nicht entgegenstehen (vgl. nur BGH NJW-RR 2017, 676 Rn. 44 mwN).

2. Eine Berücksichtigung von Restitutionsgründen in der Revisionsinstanz kommt nicht bereits aus Gründen der Prozesswirtschaftlichkeit in Betracht, sondern nur dann, wenn höhere Belange der Allgemeinheit und der ihr dienenden Rechtspflege dies fordern. Dabei ist nach der Rspr. wiederum zu differenzieren:

  • Die in § 580 Nr. 1–7 Buchst. a ZPO geregelten Restitutionsgründe sind (wenn, soweit diese auf einer strafbaren Handlung beruhen, § 580 Nr. 1–5 ZPO, deswegen eine rechtskräftige Verurteilung ergangen ist, § 581 I ZPO) nach der Rspr. des BGH zu berücksichtigen, weil sich das Revisionsurteil sonst zum Inhalt einer rechtskräftigen Entscheidung eines anderen Gerichts in Widerspruch setzen oder doch dieses Erkenntnis unbeachtet lassen würde (vgl. Nachw. in Rn. 27 der besprochenen Entscheidung).
  • Dagegen kommt eine Berücksichtigung des in § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO geregelten Restitutionsgrundes (eine Partei findet eine entscheidungserhebliche Urkunde auf oder wird zu ihrer  Benutzung in den Stand gesetzt; hier sind höhere Belange schwerlich berührt) – als solchem – in der Revisionsinstanz nicht in Betracht (vgl. außer der besprochenen Entscheidung auch BGH BeckRS 2020, 23735): Da das Revisionsgericht insoweit keine eigene Tatsachenfeststellung treffen könnte, käme ohnehin nur eine Zurückverweisung in Betracht (dann kann aber genauso gut Restitutionsklage erhoben werden); ist aber aus anderen Gründen zurückzuverweisen, kann die Partei in der wiedereröffneten Berufungsinstanz (in den Grenzen des § 531 II ZPO) ohnehin neu vortragen und ist auf das Vorliegen eines Restitutionsgrundes nicht angewiesen.

BGH, Urteil vom 17.09.2020 - III ZR 283/18, BeckRS 2020, 26395