Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 18/2022 vom 02.09.2022
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Sachverhalt
Die S-GmbH (fortan: Schuldnerin) war als Bauunternehmen fast ausschließlich für die öffentliche Hand tätig. Sie zahlte monatlich SV-Beiträge an die Beklagte. Deren Beitragsforderungen bewegten sich von Januar bis Mai 2013 zwischen 8.767 EUR und 22.100 EUR. Die Schuldnerin zahlte die Beiträge jeweils vollständig, einschließlich der angefallenen Mahngebühren und Zinsen, jedoch stets mit vier und sechs Wochen Verzögerung. Auf den Eigenantrag der Schuldnerin vom 06.02.2017 eröffnete das Insolvenzgericht das Insolvenzverfahren und bestellte den Kläger zum Insolvenzverwalter. Dieser erklärte der Beklagten (Krankenkasse) die Anfechtung sämtlicher Zahlungen seit 01.01.2013. Mit der Klage macht der Kläger Anfechtungsansprüche gegen die Beklagte wegen der seit Februar 2013 erhaltenen Zahlungen i.H.v. 771.000 EUR geltend. Das LG wies die Klage ab und auf die Berufung des Klägers verurteilte das OLG die Beklagte antragsgemäß. Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten.
Entscheidung
Der BGH hebt das Urteil des OLG auf und weist den Rechtsstreit an das OLG zurück. Nach § 133 InsO unterliegen Zahlungen der Schuldnerin der Anfechtung, soweit die Schuldnerin wusste oder billigend in Kauf nahm, die übrigen Gläubiger auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht vollständig befriedigen zu können. Die gegenwärtige Zahlungsunfähigkeit allein spricht für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz, wenn sie ein Ausmaß angenommen hat, das eine vollständige Befriedigung der übrigen Gläubiger auch in Zukunft nicht erwarten lässt; wenn also ein Insolvenzverfahren unausweichlich erschien. Ist die Krise noch nicht so weit fortgeschritten oder besteht aus anderen Gründen berechtigte Hoffnung auf Besserung, genügt der Blick auf die momentane Liquiditätslage nicht. Hatte die Deckungslücke ein Ausmaß erreicht, das selbst bei optimistischer Einschätzung der zukünftigen Entwicklung in absehbarer Zeit keine vollständige Befriedigung der bereits vorhandenen und der absehbar hinzutretenden Gläubiger erwarten ließ, musste dem Schuldner klar sein, dass er nicht einzelne Gläubiger befriedigen konnte. Der BGH definiert einerseits den Tatbestand der Zahlungseinstellung unter Bezug auf die langjährige Rechtsprechung. Zahlungsverzögerungen allein, auch wenn sie wiederholt auftreten, reichen für die Feststellung der Zahlungseinstellung nicht aus. Auch beim Zahlungsverhalten gegenüber Sozialversicherungsträgern kommt es darauf an, ob die gesamten Umstände ein Gewicht erreichen, dass einer Erklärung des Schuldners gleichsteht, aus Mangel an liquiden Mitteln nicht zahlen zu können. Die mehr als halbjährige Nichtbegleichung von SV-Beiträgen bildet nach ständiger Rechtsprechung ein erhebliches Beweisanzeichen für eine Zahlungseinstellung.
Praxishinweis
1. Da das Berufungsgericht weitere Umstände nicht festgestellt hat, ist durchaus denkbar, dass es im Rahmen einer weiteren Beweiserhebung und Beweiswürdigung den Benachteiligungsvorsatz verneint, da die Schuldnerin im Zeitpunkt der Zahlung der Beiträge durchaus Anhaltspunkte dafür hatte, dass ihre optimistische Sicht, das Unternehmen könne fortgeführt werden, eine Grundlage hatte.
Der Gesetzgeber sieht solcher Art Anfechtungsmöglichkeiten kritisch: Weder die Krankenkasse noch die Rentenversicherung kann ihre Leistungen korrigieren oder einstellen mit dem Argument, die Beiträge hätten sie im Rahmen der Anfechtung zurückzahlen müssen. Hier liegt also eine massive Benachteiligung vor, die der Gesetzgeber mit der Einführung des § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV jedenfalls abmildern wollte. Diese Vorschrift wird vom BGH aber als so verfehlt angesehen, dass sie außer Betracht zu bleiben hat (BGH, BeckRS 2009, 86788, dagegen ausführlich Knospe, Die Insolvenzanfechtung von Sozialversicherungsbeiträgen, 2014).
2. Der Zahlungsverzug seitens der Schuldnerin hat nicht als solcher Vollstreckungsmaßnahmen seitens der Kasse ausgelöst und auch nicht einen kassenseitigen Antrag auf Insolvenz. Ein solcher Antrag hätte möglicherweise der Kasse etwas Luft verschafft, jedenfalls was die letzten, dem Insolvenzereignis vorausgegangenen, drei Monate des Arbeitsverhältnisses anlangt, § 175 SGB III.
BGH, Urteil vom 28.04.2022 - IX ZR 48/21, BeckRS 2022, 14313