Urteilsanalyse
Behördlich angeordnete Quarantäne während des Urlaubs
Urteilsanalyse
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Der EuGH wird nach Art. 267 AEUV vom BAG um Vorabentscheidung über folgende Frage ersucht: Sind Art. 7 RL 2003/88/EG und Art. 31 II GrC dahingehend auszulegen, dass sie einer innerstaatlichen Regelung oder Praxis entgegenstehen, der zufolge ein vom Arbeitnehmer beantragter und vom Arbeitgeber bewilligter bezahlter Jahresurlaub, der sich mit einer nach Urlaubsbewilligung durch die zuständige Behörde wegen Ansteckungsverdachts angeordneten häuslichen Quarantäne zeitlich überschneidet, nicht nachzugewähren ist, wobei beim Arbeitnehmer während der Quarantäne keine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit besteht?

29. Aug 2022

Anmerkung von
RA Prof. Dr. Christian Arnold, LL.M. (Yale), Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 33/2022 vom 25.08.2022

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Sachverhalt

Der Kläger ist seit 1993 bei der Beklagten als Schlosser beschäftigt. Diese bewilligte ihm auf Antrag acht Tage Erholungsurlaub (Zeitraum vom 12.10.2020 bis 21.10.2020). Die Stadt Hagen ordnete mit Bescheid vom 14.10.2020 die Absonderung des Klägers in häusliche Quarantäne für den Zeitraum vom 9.10.2020 bis 21.10.2020 an. Dieser stützte sich auf die Begründung, dass der Kläger zu einer mit dem Corona-Virus infizierten Person Kontakt hatte. Der Bescheid untersagte dem Kläger für die Zeit der Quarantäne, seine Wohnung ohne ausdrückliche Zustimmung des Gesundheitsamts zu verlassen und Besuch von haushaltsfremden Personen zu empfangen. Die Beklagte belastete das Urlaubskonto des Klägers mit acht Tagen und zahlte das Urlaubsentgelt. Die Klage auf Wiedergutschrift der Urlaubstage wies das ArbG ab. Das LAG gab der Berufung des Klägers statt.

Entscheidung

Das BAG setzt das Verfahren aus und ruft den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens an. Der Kläger begründet seinen Anspruch damit, es sei ihm nicht möglich gewesen, seinen Urlaub selbstbestimmt zu gestalten. Eine Quarantäne-Anordnung sei mit der Situation einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit vergleichbar. Daher müsse der Arbeitgeber ihm entsprechend § 9 BUrlG, demzufolge ärztlich attestierte Krankheitszeiten während des Urlaubs nicht auf den Jahresurlaub angerechnet werden dürfen, Urlaub nachgewähren. Anders als das ArbG war das LAG der Argumentation des Klägers gefolgt. Nach Auffassung des LAG besteht eine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes. Zwar habe das BAG (Urteil vom 25.08.2020, FD-ArbR 2020, 434153) entschieden, dass § 9 BUrlG grundsätzlich nicht analog angewendet werden könne. Im Falle einer behördlich angeordneten Quarantäne bestehe jedoch eine vergleichbare Interessenlage wie bei Arbeitsunfähigkeit während des Erholungsurlaubs. Der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers umfasst eine Freistellung von der Arbeitspflicht, um ihm die uneingeschränkte Möglichkeit zur selbstbestimmten Nutzung der Freizeit zu gewähren. Dies sei bei einer behördlich angeordneten Quarantäne von vornherein unmöglich.

Das BAG folgt dieser Auffassung wohl nicht. Es hält an seiner Rspr. fest, § 9 BUrlG grundsätzlich nicht analog auf andere Situationen zu erstrecken. Daher legte der 9. Senat die Sache dem EuGH vor. Es sei entscheidungserheblich, ob es mit Art. 7 RL 2003/88/EG und Art. 31 II GrC in Einklang stehen, wenn vom Arbeitnehmer beantragter und vom Arbeitgeber bewilligter Jahresurlaub, der sich mit einer nach Urlaubsbewilligung durch die zuständige Behörde angeordneten häuslichen Quarantäne zeitlich überschneidet, nach nationalem Recht nicht nachzugewähren ist, weil der betroffene Arbeitnehmer selbst nicht erkrankt war. Entscheidungserheblich kann die Frage nur dann sein, wenn der 9. Senat nach nationalem Recht eine analoge Anwendung des § 9 BUrlG ablehnt. Damit schließt sich der Senat der ganz überwiegenden Auffassung der Berufungsgerichte an (z.B. LAG Baden-Württemberg, FD-ArbR 2022, 448027; LAG Düsseldorf, ArbRAktuell 2022, 78).

Praxishinweis

Der 9. Senat führt seine Praxis, regelmäßig Fragen des Urlaubsrechts dem EuGH vorzulegen, fort. Die bislang allein vorliegende Pressemitteilung (FD-ArbR 2022, 450854) lässt nicht erkennen, ob der Senat bestimmte Entscheidungen des EuGH im Blick hat, die der Anwendung nationalen Urlaubsrechts entgegenstehen oder ob sich der Senat mit Blick auf allgemeine unionsrechtliche Grundsätze des Urlaubsrechts vergewissern möchte, dass das von ihm nach nationalem Recht gefundene Ergebnis Unionsrecht nicht widerspricht. Allein die Lektüre unionsrechtlicher Vorschriften lässt jedenfalls nicht erkennen, warum der 9. Senat nicht „durchentschieden“ hat, überlässt doch Art. 7 RL 2003/88/EG die Inanspruchnahme und Gewährung des Urlaubs der Maßgabe der Bedingungen, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.


BAG, Beschluss vom 16.08.2022 - 9 AZR 76/22 (A) (LAG Hamm)