Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 06/2023 vom 31.03.2023
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Sachverhalt
Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung des GdB von 50 auf 30. Dem 1958 geborenen Kläger wurde im Juni 2021 ein Tumor an der Schulter operativ entfernt. Der Beklagte stellte ausgehend von der Funktionsbeeinträchtigung „Schulterblattentfernung mit Bewegungseinschränkung der Schulter im Stadium der Heilungsbewährung“ einen GdB von 50 ab 2011 fest.
Nach Anhörung des Klägers setzte die Beklagte den GdB mit Wirkung ab 01.11.2016 auf 20 herab, weil die vorgesehene Zeit der Heilungsbewährung abgelaufen sei und der GdB nur noch nach den tatsächlich bestehenden Funktionseinschränkungen zu beurteilen sei. Weitere Funktionsbeeinträchtigungen und Gesundheitsstörungen wirkten sich nicht aus oder seien für die Bildung des GdB ohne Bedeutung. Im Widerspruch erfolgte eine Teilabhilfe auf einen GdB von 30. Klage und Berufung dagegen waren erfolglos. Nach den bislang beigezogenen Unterlagen kommt ein höherer GdB nicht in Betracht. Verbleibende Zweifel aufgrund der bislang nicht ausreichenden medizinischen Ermittlungen gehen zu Lasten des Klägers, nachdem dieser die vom Gericht angeordnete Begutachtung nur in Anwesenheit seiner Tochter oder seines Sohnes während der gutachterlichen Untersuchung akzeptierte. Der vom Kläger gestellte Antrag nach § 109 SGG auf Begutachtung durch den von ihm benannten Orthopäden sei angesichts der Vereitelung des von Amts wegen in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachtens als rechtsmissbräuchlich abzulehnen.
Mit seiner Revision macht der Kläger geltend, aus Gründen des fairen Verfahrens, u.a. Art. 6 EMRK, müsste es ihm grundsätzlich erlaubt sein, eine Vertrauensperson an der Untersuchung, der Anamnese und den Unterredungen mit dem Sachverständigen teilnehmen zu lassen. Durch die Anwesenheit einer Vertrauensperson könne er die für ihn höchst unangenehme Begutachtung erträglicher gestalten.
Entscheidung
Das BSG hebt das Berufungsurteil auf und weist den Rechtsstreit zurück an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung. Ob der Beklagte berechtigt war, mit den angefochtenen Bescheiden den GdB auf 30 herabzusetzen, kann der Senat nicht abschließend entscheiden.
Die vom Kläger gerügte Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes gem. § 103 SGG liegt vor. Vorliegend war eine Begutachtung angezeigt. Für die Zeit nach Ablauf der Heilungsbewährung ist der GdB nach den konkreten Auswirkungen der vorliegenden Gesundheitsstörungen zu bemessen. Im Rahmen der Mitwirkungslast bei der Erforschung des Sachverhaltes obliegt es den Beteiligten, sich im gerichtlichen Verfahren ärztlich untersuchen zu lassen. Dabei steht es den Beteiligten im Grundsatz frei, eine Vertrauensperson zu einer gutachterlichen Untersuchung mitzunehmen. Dazu verweist der Senat auf Art. 2 GG, aber auch auf § 73 SGG, wonach Kläger im Verfahren vor dem Sozialgericht mit einem Beistand erscheinen können. Das können auch volljährige Familienangehörige sein.
Das Recht auf Vertretung durch Beistände bzw. Familienangehörige ist nicht allein auf die Verhandlung einschließlich der Beweisaufnahme vor dem Richter beschränkt, sondern umfasst auch die Durchführung der vom Richter angeordneten Begutachtung durch einen Sachverständigen. Ein Unterstützungsbedürfnis besteht besonders dann, wenn der zu begutachtende Beteiligte in der Fähigkeit, seine gesundheitliche Situation darzustellen, gehemmt oder behindert ist.
Die Begleitperson kann ausgeschlossen werden, wenn dies unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen wirksamen Rechtspflege erforderlich ist, etwa wenn ihre Teilnahme eine geordnete und effektive Beweiserhebung verhindert oder maßgeblich erschwert. Dies gilt insbesondere, wenn zu befürchten ist, dass durch die Anwesenheit eines Dritten das Ergebnis der Exploration und Begutachtung verfälscht werden kann. Werden etwa sensible Bereiche wie aus der persönlichen Biographie angesprochen, erscheint es plausibel, dass die Anwesenheit Dritter dazu führen kann, dass Informationen nicht oder inhaltlich verändert mitgeteilt werden, sei es aus Scham, Angst oder Rücksicht auf die Gefühle der Vertrauensperson.
Praxishinweis
1. Diese Grundsatzentscheidung besagt nicht, dass in jedem Fall, in dem es um die Beurteilung einer Heilungsbewährung geht, seitens des Gerichtes ein medizinisches Sachverständigengutachten eingeholt werden muss. Das ist nach §§ 103, 106 SGG nur dann und insoweit der Fall, als sich z.B. aus Befundberichten oder dem Vortrag des Betroffenen Aspekte ergeben, die im Verwaltungsverfahren noch nicht sozialmedizinisch berücksichtigt wurden. Das Urteil postuliert auch nicht, dass die Versorgungsverwaltung in jedem Einzelfall eine Begutachtung selbst in Auftrag geben muss. Auch hier gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. dazu SG Karlsruhe, BeckRS 2019, 22882; Wertemeyer/Kröner, SGb 2020, 204.
2. Das Grundsatzurteil bestätigt, dass jedenfalls im Gerichtsverfahren der Kläger zur Begutachtung eine Vertrauensperson mitbringen kann. Sie muss erwachsen sein. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass diese Begleitung das Ergebnis der Begutachtung zu verfälschen geeignet ist. Die für diese Einschränkung notwendigen Tatsachen sind nur sehr schwer festzustellen. Der pure Verdacht reicht nicht aus, schon gar nicht die Möglichkeit. Man könnte überlegen, im Einzelfall einen Erörterungstermin durchzuführen, damit die Richterin oder der Richter sich ein persönliches Bild von der Gutachtensperson machen und der möglichen Begleitung. Das wäre wohl aber in aller Regel unverhältnismäßig und provoziert zugleich die Frage, wie in einem solchen Erörterungstermin die vom BSG formulierten Begrenzungen wirklich festgestellt werden können.
3. Schon bisher werden Gutachtenspersonen in der Praxis häufig von Vertrauenspersonen begleitet, nicht nur wenn es um Probleme der sprachlichen Verständigung geht, sondern auch bei Personen mit erheblichem Handicap. Die Feststellung des Pflegegrades erfolgt in aller Regel unter Einbeziehung von „Vertrauenspersonen“, d.h. der Personen, die die Pflege tatsächlich durchführen. Das macht sicherlich Sinn, auch im Hinblick darauf, dass diese Begutachtungen mit einer Beratung und gegebenenfalls Unterstützung einhergehen.
4. Dieses Urteil darf nicht missverstanden werden: Auf die Verletzung der Amtsermittlungspflicht gem. § 103 SGG kann sich in der Nichtzulassungsbeschwerde nur stützen, wer einen Beweisantrag in der letzten mündlichen Verhandlung gestellt hat, der ohne hinreichenden Grund abgelehnt wurde (dazu erneut BSG, BeckRS 2023, 3322).
5. Vgl. auch LSG Schleswig vom 24.06.2022 (BeckRS 2022, 43366) zur GdB-Beurteilung kognitiver Beeinträchtigungen nach einer Hirnblutung i.V.m. einer psychischen Symptomatik. Nach umfangreicher Begutachtung wird die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft abgelehnt.
BSG, Urteil vom 27.10.2022 - B 9 SB 1/20 R, BeckRS 2022, 44557