Anmerkung von
Rechtsanwältin Simone Breit, Knierim & Kollegen Rechtsanwälte, Mainz
Aus beck-fachdienst Strafrecht 02/2021 vom 21.01.2021
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Sachverhalt
Die Angeklagten A und B sind fachlich versierte Geburtsmediziner. Bei S lag eine Zwillingschwangerschaft vor. Jeder (eineiige) Fetus verfügte über eine eigene innere Eihülle, sie teilten sich aber die Plazenta. Eine solche Schwangerschaft ist aufgrund der Verbindung der Blutkreisläufe der Zwillinge risikobehaftet. Bei einem Zwilling wurde eine Hirnschädigung festgestellt. Der andere Fetus wies eine normale Entwicklung aus. Im Klinikum wurde S über die Möglichkeit eines selektiven Schwangerschaftsabbruchs informiert. Dabei wurde ihr mitgeteilt, dass eine Injektion mit Kaliumchlorid nicht möglich sei, weil der andere Fetus dadurch in Gefahr gerate. Andere Methoden seien praktikabel, erhöhten aber das Risiko einer Frühgeburt. Der abgestorbene Fetus verbleibe dann bis zur Geburt im Mutterleib. S nahm vom selektiven Fetozid Abstand.
S bekam sodann Wehen. Gemeinsam entschlossen sich A, B und S, den geplanten Kaiserschnitt vorzunehmen, in dessen Verlauf zunächst der gesunde Zwilling entbunden und unmittelbar im Anschluss daran der geschädigte - jedoch lebensfähige - Zwilling mittels Kaliumchloridinjektion getötet werden sollte. Dabei waren sich A und B bewusst, dass sie sich durch diese von Fachkreisen nicht vorgesehene Operationsmethode über geltendes Recht hinwegsetzten und einen Menschen töten würden. Dies nahmen sie in Kauf. Sie öffneten operativ Bauchdecke und Gebärmutter von S. Der gesunde weibliche Zwilling wurde entnommen, seine Nabelschnur durchtrennt. Anschließend suchten sie bei dem in der Gebärmutter in Beckenendlage liegenden anderen Zwilling die Nabelschnur, klemmten diese ab und töteten ihn durch Injektion von Kaliumchloridlösung. Den toten Zwilling hoben sie aus der Gebärmutter und vermerkten insoweit „Totgeburt“.
Der getötete Zwilling war lebensfähig, es wären bei ihm aber schwere Behinderungen (motorische Störungen, Lähmungen, Spastiken, deutliche kognitive Einschränkungen) zu erwarten gewesen. Andere Verfahren zur Durchführung eines selektiven Fetozids wären mit höheren Risiken für den gesunden Zwilling verbunden gewesen.
Das LG hat A und B wegen gemeinschaftlich begangenen Totschlags verurteilt. Hiergegen legten die Angeklagten Revision ein.
Entscheidung
Die Revision bliebt erfolglos.
Der Schuldspruch halte revisionsrechtlicher Überprüfung stand. Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen hätten A und B den objektiven Tatbestand des Totschlags erfüllt. Der getötete Zwilling sei im Zeitpunkt der tödlichen Einwirkung bereits ein Mensch im Sinne der §§ 211 ff. StGB gewesen. Die Abgrenzung werde von der höchstrichterlichen Rechtsprechung seit jeher vom Beginn der Geburt abhängig gemacht. In der Literatur werde allerdings teilweise vertreten, dass nicht der Beginn, sondern die Vollendung der Geburt relevant sei. Dies berücksichtige aber nicht, dass das Kind gerade in der mit Risiken für Gesundheit und Leben verbundenen Geburtsphase besonderen Schutzes – auch vor fahrlässigen Einwirkungen – bedürfe.
Als Beginn der Geburt sei bei natürlichem Geburtsverlauf das Einsetzen der Eröffnungswehen anzusehen. Wann bei einem Kaiserschnitt die Geburt beginne, sei umstritten. In der Literatur werde schon in der Einleitung der Narkose oder im ersten Schnitt des Operateurs zur Eröffnung der Bauchdecke der Beginn gesehen. Demgegenüber nehme die überwiegende Auffassung an, dass die Geburt mit der Eröffnung des Uterus beginne. Der Senat schließt sich dem an.
Entscheidend sei, dass mit der Eröffnung des Uterus ein Abbruch des begonnenen Geburtsvorgangs regelmäßig nicht mehr in Betracht komme und dies in aller Regel – anders als Narkose oder Bauchschnitt – ein eindeutiges Ende der Schwangerschaft bewirke. Lediglich in seltenen Sonderfällen könne der Geburtsbeginn auch früher als mit der Uterusöffnung eintreten. Diese objektive Grenzziehung bedürfe aufgrund der medizinischen Möglichkeiten, den Uterus zu fetalchirurgischen Zwecken zu öffnen und wieder zu verschließen einer Einschränkung. In subjektiver Hinsicht müsse die Gebärmutter zu dem Zweck eröffnet werden, den Fetus dauerhaft vom Mutterleib zu trennen und die Schwangerschaft zu beenden. Diese Intention des Arztes lasse sich regelmäßig anhand objektiver Merkmale feststellen. Die chirurgische Eröffnung des Uterus zum Zweck der dauerhaften Trennung des Kindes vom Mutterleib stelle auch bei einer Mehrlingsgeburt die entscheidende Abgrenzung dar. Diese Grenzziehung werde nicht dadurch in Frage gestellt, dass es auch eine zeitversetzte Geburt von Mehrlingen gebe.
Ein solcher Fall einer zeitversetzten Geburt liege aber nicht vor. A und B hätten nach den getroffenen Feststellungen vorsätzlich gehandelt. Beide seien erfahrene und auch Schwangerschaftsabbrüche vornehmende Geburtsmediziner, welche die Grenzziehung zwischen Spätabtreibung im Sinne von § 218 StGB und rechtswidriger Tötung im Sinne der §§ 211 ff. StGB kennen. Nach den Feststellungen komme die Annahme eines Verbotsirrtums nicht in Betracht. Danach sei beiden Angeklagten bewusst gewesen, dass sie sich über geltendes Recht hinwegsetzen und einen Menschen töten.
Praxishinweis
Die Frage des Geburtsbeginns bei einem Kaiserschnitt war bis zur vorliegenden Entscheidung höchstrichterlich nicht geklärt. In der Literatur ist die Frage umstritten, so wurde teilweise auf die Eröffnung der Bauchdecke oder aber bereits die Einleitung der Operation mit dem Beginn der Narkose abgestellt. Der BGH legt nun mit der herrschenden Lehre eine zeitlich nachgelagerte Handlung, das Eröffnen des Uterus, als Geburtsbeginn zugrunde. Ab diesem Zeitpunkt sei die Geburt regelmäßig nicht mehr abzubrechen.
Dies steht nicht ganz im Einklang mit der Annahme zum Geburtsbeginn bei der natürlichen Geburt. Hier ist nach obergerichtlicher Rechtsprechung (BGHSt 32, 194) auf die Eröffnungswehen abzustellen, also einen Zeitpunkt, bei dem die Geburt noch zu einem Stillstand kommen kann.
Entscheidend ist die Frage des Geburtsbeginns für die Strafbarkeit entweder nach § 218 StGB als Schwangerschaftsabbruch oder aber als Tötungsdelikt nach den §§ 211 ff. StGB. Nicht nur beim Strafmaß, sondern auch bei fahrlässigem Handeln macht dies einen erheblichen Unterschied. Hat die Geburt noch nicht begonnen sind fahrlässige Behandlungsfehler des Arztes, also etwa das Verabreichen eines nicht indizierten Medikaments, bei dem darauffolgenden Tod des Fetus straffrei. Nach Geburtsbeginn, bei der natürlichen Geburt also mit den Eröffnungswehen, können solche Fehler als fahrlässige Tötung geahndet werden. Anders hingegen beim Kaiserschnitt. Begeht der Arzt hier bei einer, der Eröffnung des Uterus vorgelagerten Handlungen, einen Fehler und verstirbt der Fetus, greift § 222 StGB nicht.
BGH, Beschluss vom 11.11.2020 - 5 StR 256/20 (LG Berlin), BeckRS 2020, 36848