Urteilsanalyse
Befreiung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung wegen einer Ordnungswidrigkeit
Urteilsanalyse
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Kündigt in einem Verkehrsordnungswidrigkeitsverfahren der Betroffene an, sich nicht weiter zur Sache zu äußern und räumt er seine Fahrereigenschaft ein, ist er nach einem Beschluss des OLG Frankfurt a.M. vom 29.06.2020 von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden. Dies gilt auch dann, wenn über ein Fahrverbot zu entscheiden ist.

19. Okt 2020

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Nicolas Böhm, Ignor & Partner GbR, Berlin

Aus beck-fachdienst Strafrecht 20/2020 vom 15.10.2020

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Sachverhalt

B habe als Fahrzeugführer die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 45 km/h überschritten, woraufhin vom zuständigen Regierungspräsidium gegen ihn eine Geldbuße in Höhe von 160,00 € sowie ein Fahrverbot von einem Monat verhängt worden war. Obwohl B die Befreiung von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung rechtzeitig beantragte, verwarf das AG den gegen o.g. Bescheid erhobenen Einspruch ohne Verhandlung zur Sache gem. § 74 Abs. 2 OWIG, als B zur Hauptverhandlung nicht erschien. Gegen dieses Urteil richtete sich die Rechtsbeschwerde des B, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügte.

Entscheidung

Das OLG hat auf die zulässige Rechtsbeschwerde das Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das AG zurückverwiesen. Das Unterlassen der rechtzeitig und begründet beantragten Entbindung des B von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, weil statt einer Sachentscheidung rechtsfehlerhaft eine Prozessentscheidung gem. § 74 Abs. 2 OWiG getroffen wurde. Nach § 73 Abs. 2 OWiG habe das Gericht einen Betroffenen von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, wenn dieser seine Fahrereigenschaft eingeräumt und im Übrigen angekündigt habe, sich in der Hauptverhandlung nicht weiter zur Sache zu äußern. Die Anwesenheit eines Betroffenen sei in diesen Konstellationen zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts regelmäßig nicht erforderlich. Dies gelte auch dann, wenn über ein Fahrverbot zu entscheiden sei. Daher hätte der Antrag des B auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung im Sinne des Antragsbegehrens entschieden werden müssen. B habe mit Schreiben seines Verteidigers seine Fahrereigenschaft eingeräumt und rechtzeitig mitgeteilt, keine weiteren Angaben zur Sache zu machen. Unter diesen Umständen sei kein sachlicher Grund für dessen Anwesenheit in der Hauptverhandlung gegeben, zumal konkrete Anhaltspunkte für eine bei Erscheinen des B noch zu erwartende Sachaufklärung nicht ersichtlich waren. Da dem AG insofern auch kein Ermessen zukomme, hätte es dem Entbindungsbegehren entsprechen müssen.

Praxishinweis

Nach dem klaren Wortlaut von § 73 Abs. 2 OWiG ist die Entbindung von der Erscheinenspflicht von drei Faktoren abhängig:

(1) Ein – spätestens in der Hauptverhandlung bis zur Vernehmung zur Sache zu stellender – Antrag des Betroffenen (vgl. OLG Celle, BeckRS 2009, 22562);
(2) eine bereits getätigte Äußerung zur Sache oder die Erklärung, dass der Betroffene sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern wolle und
(3) keine Erforderlichkeit der Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts.

Liegen diese Voraussetzungen kumulativ vor, hat das Gericht den Betroffenen von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, es sei denn, das Erscheinen ist aus Gründen der von Amts wegen vorzunehmenden Wahrheitserforschung unabdingbar. Da B mit Schreiben seines Verteidigers seine Fahrereigenschaft einräumte und rechtzeitig mitteilte, keine weiteren Angaben zur Sache zu machen, ist dafür vorliegend jedoch nichts ersichtlich. Wie das OLG mit Fug betont, gilt dies unabhängig davon, dass über ein Fahrverbot zu entscheiden ist, weil B zwar berechtigt, aber nicht verpflichtet ist, an einer weiteren Aufklärung der persönlichen Verhältnisse mitzuwirken (OLG Frankfurt a.M. BeckRS 2014, 476). Eine andere Frage ist freilich, ob es für den Betroffenen auch ratsam ist, der Hauptverhandlung fernzubleiben. Steht zum Beispiel das ausnahmsweise Absehen von einem Regelfahrverbot wegen Existenzbedrohung oder Augenblicksversagen gegen Erhöhung der Geldbuße im Raum, kann hierfür der persönliche Eindruck vom Betroffenen durchaus von wesentlicher Bedeutung sein (OLG Hamm BeckRS 2009, 25241, bejaht in solchen Fällen gar die Erforderlichkeit der Anwesenheit in der Hauptverhandlung; anders aber OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 273).

OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 29.06.2020 - 3 Ss-OWi 422/20, BeckRS 2020, 18929