Urteilsanalyse
Aussteigender Beifahrer ist nicht beim Betrieb des Kraftfahrzeugs tätig
Urteilsanalyse
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Der Haftungsausschluss des § 8 Nr. 2 StVG gilt nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Celle nicht in Bezug auf einen Beifahrer, der lediglich befördert wird und aussteigt. Insoweit sei er nicht bei dem Betrieb des Kraftfahrzeugs tätig.

5. Feb 2021

Anmerkung von
Senator E. h. Ottheinz Kääb, LL.M., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht, München

Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 1/2021 vom 21.01.2021

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StVG §§ 78 Nr. 2, 91718; StVO §§ 14 I15 Satz 1, 18 IX

Sachverhalt

Geltend gemacht werden Ansprüche aus einem Gesamtschuldner/innen-Ausgleich nach einem Verkehrsunfall aus dem Jahr 2007. Damals fuhr der Beklagte zu 1) mit einem bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversicherten Taxi, einem VW Passat, dessen Halter der Beklagte zu 2) war, auf der Autobahn. Er beförderte drei britische Soldaten, die alkoholisiert waren. Der hinten links sitzende Beifahrer hatte plötzlich mit Übelkeit zu kämpfen, weshalb das Taxi auf den Seitenstreifen fuhr und anhielt. Dabei stiegen der Fahrer und der hinten links sitzende Soldat aus. Bei ihm wurde später eine BAK vom 1,79 Promille festgestellt.

Nunmehr näherte sich ein Sattelzug auf dem rechten von drei Fahrstreifen. Er kollidierte mit den beiden geöffneten Türen und erfasste den Soldaten, der dabei schwer verletzt wurde und später an den Unfallfolgen verstarb. Der Schaden des Verstorbenen, seiner Erben und seines Arbeitgebers, des Vereinigten Königreichs, wurden in der Zwischenzeit unter einer Mithaftungsquote des Getöteten von 25%, also zu 75% reguliert. Diese Regulierung ist abgeschlossen. Die Klägerin begehrt nun allerdings im Innenverhältnis Ausgleich von dem Beklagten und will 50% ihrer behaupteten Aufwendungen erstattet haben.

Rechtliche Wertung

Die Beklagten sollen aus Betriebsgefahr voll verschuldensunabhängig haften, weil kein Fall höherer Gewalt vorliege und der Unfall für den Beklagten auch nicht unabwendbar gewesen sei. Der Fahrer des Sattelzugs habe auch nicht gegen § 18 Abs. 6 StVO verstoßen. Die Beklagten berufen sich auf einen Haftungsausschluss gemäß §§ 104106 SGB VII.

Das Gericht hat Beweis erhoben. Es wurde der Beklagte zu 1) persönlich angehört. Die polizeilichen Akten und die dort befindlichen Übersetzungen der Vernehmungsprotokolle wurden urkundlich verwertet. Ein verkehrsanalytisches Gutachten wurde erholt und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Schließlich wurde die Klage abgewiesen. Der Unfall sei überwiegend auf das Fehlverhalten des Lkw-Fahrers zurückzuführen. Ein Anhalten auf dem Seitenstreifen sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme gerechtfertigt gewesen. Das Beklagtenfahrzeug habe auch nicht in den rechten Fahrstreifen hineingeragt. Das Aufstellen eines Warndreiecks sei in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich gewesen.

Gegen dieses Urteil wurde nunmehr Berufung eingelegt. Mit der Berufung hat die Klägerin jedenfalls derzeit Erfolg. Das Urteil des Landgerichts wurde aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Die Klage wurde dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. 

Der Senat setzt sich mit den beidseits umfangreich vorgetragenen Argumenten auseinander. Es kommt darauf an, ob und wem die Betriebsgefahr zuzurechnen sei. Ein Haftungsausschluss des verunglückten Soldaten allerdings komme nicht in Betracht. Er wurde lediglich befördert. Er ist ausgestiegen. Er war nicht «bei dem Betrieb des Kraftfahrzeugs» tätig. Mit dieser Meinung setzt sich der Senat in Gegensatz zu einer Jahre zurückliegenden Entscheidung des OLG München. Daher wurde die Revision zugelassen.

Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG entfalle erst, wenn die Fortbewegungs- und Transportfunktion des Fahrzeugs keine Rolle mehr spiele.  Hier allerdings sei die Gefahr durch das stehengebliebene Fahrzeug noch unmittelbar im Zusammenhang mit dem Betrieb zu sehen. Die Gefährdungshaftung des Fahrzeugs könne also die Haftung der Beklagten nach § 8 Nr. 2 StVG nicht ausschließen.

Praxishinweis

Die Entscheidung ist für die Praxis sehr wesentlich. Haftungsausgleiche im Innenverhältnis sind ja täglich Brot des Verkehrsrechtlers. Das Sozialgesetzbuch spielt dabei stets auch eine Rolle und die verschiedenen Haftungsnormen von Fahrern, Haltern und Beifahrern sind jeweils getrennt zu betrachten. Der Haftpflichtsenat des OLG hat in dem hier vorliegenden Urteil Literatur und Rechtsprechung umfassend berücksichtigt. Die Entscheidung verdient ganz besondere Beachtung.

Gegen das Urteil wurde Revision zugelassen. Ob dieses Rechtsmittel eingelegt wurde oder wird, wissen wir derzeit nicht.

OLG Celle, Urteil vom 16.12.2020 - 14 U 77/19 (LG Hannover), BeckRS 2020, 36045