Urteilsanalyse
Auslegung einer Ruhegeldordnung in AGB: Versorgungsfall Invalidität
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"Ausscheiden" aus den Diensten des Arbeitgebers kann gemeint sein im Sinne einer rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses, kann aber nach einem Urteil des BAG auch das faktisch tatsächliche Ausscheiden im Sinne eines Ruhens der beiderseitigen Hauptleistungspflichten nach Ablauf des Entgeltfortzahlungszeitraums von sechs Wochen bis zum sog. Aussteuern i.S.v. § 48 SGB V meinen.

18. Jun 2021

Anmerkung von
RA Dr. Sebastian Ernst, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 23/2021 vom 10.06.2021

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Sachverhalt

Die Parteien stritten über einen Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente aus der früheren Versorgungsordnung (VO) der Beklagten, einer Krankenhausbetreiberin. § 9 I VO setzte für einen Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente sinngemäß verkürzt das „Ausscheiden aus dem Krankenhaus“ und den Nachweis über den Eintritt einer mindestens 50%igen Berufs-/Erwerbsunfähigkeit voraus. Nach § 9 VI VO bestehe ein Anspruch auf anteilige Altersrente, wenn die Berufs-/Erwerbsunfähigkeit vorzeitig ende, ohne dass das Dienstverhältnis mit dem Krankenhaus fortgesetzt werde.

Die Klägerin war langzeiterkrankt und erhielt jedenfalls seit dem 1.7.2015 keine Entgeltersatzleistungen mehr von der Beklagten. Der Rentenversicherungsträger bewilligte der Klägerin rückwirkend ab dem 1.7.2015 eine zunächst befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Das Arbeitsverhältnis wurde zunächst nicht beendet. Für die Zeit bis einschließlich 31.12.2018 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente aus der VO ab. Die Klägerin begehrte daraufhin die gerichtliche Feststellung, dass ihr für den Zeitraum vom 1.7.2015 bis 31.12.2018 eine monatliche Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht. Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab.

Entscheidung

Die Revision der Beklagten hatte vor dem BAG Erfolg. Dem Anspruch auf Invaliditätsversorgung stehe nicht entgegen, dass das Arbeitsverhältnis im streitgegenständlichen Zeitraum rechtlich nicht beendet war. Das ergebe sich bereits aus der Auslegung der VO, jedenfalls aber aus der Unklarheitenregel des § 305c II BGB. Bei der VO handele es sich um AGB. AGB seien objektiv nach dem Maßstab eines rechtsunkundigen, verständigen Vertragspartners auszulegen, wobei es nicht auf den konkreten, sondern einen durchschnittlichen Vertragspartner ankomme. Sei der Vertragswortlaut nicht eindeutig, komme es für die Auslegung darauf an, wie der Vertragstext aus Sicht der typischerweise an Geschäften dieser Art beteiligten Verkehrskreise zu verstehen sei. Nach diesem Maßstab spreche hier einiges dafür, dass der Anspruch auf Invaliditätsversorgung nach § 9 VO nicht die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses voraussetze. Mit „Ausscheiden aus dem Krankenhaus“ i.S.d. § 9 I VO könne einerseits eine rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses, aber andererseits auch das faktisch tatsächliche Ausscheiden im Sinne eines Ruhens der beiderseitigen Hauptleistungspflichten nach Ablauf des Entgeltfortzahlungszeitraums gemeint sein. Für Letzteres spreche § 9 VI VO, wonach eine Altersrente nur gewährt werde, wenn das Dienstverhältnis nach Ende der Berufsunfähigkeit nicht fortgesetzt werde. Die VO gehe hier implizit von der Möglichkeit aus, dass das Arbeitsverhältnis während der Berufsunfähigkeit fortbestehe und nach deren Ende fortgesetzt werden könne. Auch nach Sinn und Zweck der Bestimmung könne „Ausscheiden“ auch für die Suspendierung der Leistungspflichten stehen. Sinn und Zweck einer Ausscheidensklausel bei der Invaliditätsversorgung sei es, Doppelansprüche auf Arbeitsvergütung einerseits und Ruhegeld andererseits zu vermeiden (BAG, NZA 1999, 711). Solche Doppelansprüche seien aber nicht nur ausgeschlossen, wenn das Arbeitsverhältnis rechtlich beendet sei, sondern schon dann, wenn es für die Dauer des Bezugs der Invaliditätsversorgung ruhe. Verbleibe nach Ausschöpfung aller Auslegungsmethoden ein nicht behebbarer Zweifel, gehe das gemäß § 305c II BGB zulasten des Verwenders (BAG, FD-ArbR 2020, 432181). Insofern führe jedenfalls das in diesem Fall zu einem Anspruch der Klägerin auf Berufsunfähigkeitsrente.

Praxishinweis

Bei der Gestaltung von Versorgungszusagen sollte, nicht nur bei AGB, klar geregelt werden, ob die Invaliditätsversorgung die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses voraussetzt. Auch der Invaliditätsbegriff ist gesetzlich nicht definiert. Vielfach werden verwandte Begriffe herangezogen, wie Berufs-/Erwerbsunfähigkeit oder Erwerbsminderung. Diese ursprünglich aus dem Sozialversicherungsrecht stammenden Begriffe sollten an die Gegebenheiten der betrieblichen Altersversorgung angepasst werden. Für sich genommen setzen sie weder zwingend die Beendigung des Arbeitsverhältnisses voraus, noch ist das Verhältnis zu einer lang andauernden aber eben nicht dauerhaften Arbeitsunfähigkeit ohne nähere Bestimmungen eindeutig.

BAG, Urteil vom 23.03.2021 - 3 AZR 99/20 (LAG Niedersachsen), BeckRS 2021, 11041