Urteilsanalyse
Auskunftsanspruch eines Pflichtteilsberechtigten trotz Erbausschlagung
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Einem Pflichtteilsberechtigten steht nach einem Urteil des BGH auch nach Ausschlagung seines Erbteils gemäß § 2306 Abs. 1 BGB ein Auskunftsanspruch gemäß § 2314 Abs. 1 BGB zu.

26. Jan 2023

Anmerkung von 
JR Dr. Wolfgang Litzenburger, Notar a.D., Mainz
       
Aus beck-fachdienst Erbrecht 01/2023 vom 23.01.2023

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Sachverhalt

Der Kläger macht gegen den Beklagten zu 1 im Wege einer Stufenklage Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche geltend.

Die Parteien sind Kinder des 2015 verstorbenen Erblassers. Dieser hatte zusammen mit seiner bereits vorverstorbenen Ehefrau seine fünf Kinder als Erben eingesetzt. Für den Beklagten und einen weiteren Bruder des Klägers hatte er Grundstücksvermächtnisse angeordnet und den Beklagten zum Testamentsvollstrecker bestellt. Der Kläger und seine beiden Schwestern schlugen die Erbschaft jeweils nach § 2306 Abs. 1 BGB - auch für ihre minderjährigen Kinder - aus.

Der Kläger forderte den Beklagten erfolglos zur Auskunftserteilung auf. Er hat beantragt, diesen zu verurteilen, auf der ersten Stufe Auskunft zu erteilen über den Bestand des Nachlasses durch Vorlage eines notariellen Bestandsverzeichnisses, über alle ergänzungspflichtigen Zuwendungen (§ 2325 BGB) und alle unter Abkömmlingen ausgleichspflichtigen Zuwendungen (§§ 2050 ff. BGB), die der Erblasser jeweils zu Lebzeiten getätigt hat.

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben, in Bezug auf die ergänzungspflichtigen Zuwendungen (§ 2325 BGB) mit der Maßgabe, dass der Beklagte Auskunft zu erteilen habe über alle Zuwendungen, die der Erblasser in den letzten zehn Jahren vor seinem Tod getätigt hat. Das OLG Stuttgart (BeckRS 2022, 37317) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.

Mit der Revision begehrt dieser weiter die Abweisung der Klage.

Entscheidung: Das Berufungsgericht hat zu Recht einen Auskunftsanspruch des Klägers aus § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB angenommen.

Ob ein Pflichtteilsberechtigter nach Ausschlagung seines Erbteils gemäß § 2306 Abs. 1 Halbsatz 1 BGB nicht Erbe i.S.v. § 2314 Abs. 1 BGB ist, ist umstritten.

Nach einer Auffassung ist § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht auf Personen anzuwenden, die erst durch Ausschlagung des Erbes nicht als Erben anzusehen sind (vgl. OLG Celle ZEV 2006, 557 unter I 1; Jauernig/Stürner, BGB 18. Aufl. § 2314 Rn. 1). Nach dieser Ansicht darf die Ausschlagung des Erbes durch den späteren Kläger nicht dazu dienen, seine Stellung im Auskunftsverfahren gegenüber dem Erben zu verbessern und ihm Rechte einzuräumen, die ihm als Miterbe nicht zustünden. Die Unterscheidung zwischen dem pflichtteilsberechtigten Nichterben und dem pflichtteilsberechtigten Miterben, die das Gesetz vornehme, dürfe nicht dadurch unterlaufen werden, dass der nur unter eingeschränkten Voraussetzungen mit Auskunftsansprüchen ausgestattete Miterbe die Erbschaft ausschlage, um sich einen von weiteren Voraussetzungen unabhängigen Auskunftsanspruch gegen den (Mit-)Erben zu verschaffen.

Nach der überwiegend vertretenen Auffassung steht einem Pflichtteilsberechtigten nach Ausschlagung seines Erbteils ein Auskunftsanspruch aus § 2314 Abs. 1 BGB zu (vgl. OLG Schleswig ZEV 2015, 109 Rn. 11 f.; OLG Naumburg ZEV 2015, 114 Rn. 10 ff.; OLG Karlsruhe ZEV 2008, 39 unter II; BeckOK-BGB/Müller-Engels, § 2314 Rn. 3 [Stand: 1. August 2022]; BeckOGK-BGB/Blum/Heuser, § 2314 Rn. 19, 20.2 Stand: 1. November 2021; MünchKomm-BGB/Lange, 9. Aufl. § 2314 Rn. 65; Staudinger/Herzog, BGB (2021) § 2314 Rn. 91 [Stand: 22. Mai 2022]; Damrau, ZEV 2006, 557). Wird eine Erbschaft ausgeschlagen, gilt der Anfall an den Ausschlagenden gemäß § 1953 Abs. 1 BGB als nicht erfolgt. Es ist nicht einzusehen, warum der als Erbe eingesetzte Pflichtteilsberechtigte, der die Erbschaft ausschlägt, zwar nach § 2306 Abs. 1 BGB den Pflichtteil verlangen kann, ihm aber - anders als dem enterbten Pflichtteilsberechtigten - der Auskunftsanspruch nach § 2314 Abs.  1 BGB verweigert wird.

Letztere Auffassung trifft zu. Ein Pflichtteilsberechtigter ist nach Ausschlagung seines Erbteils nicht Erbe i.S.v. § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB, so dass ihm der Auskunftsanspruch zusteht.

Dafür sprechen schon der Wortlaut des § 2314 Abs. 1 BGB sowie die Gesetzessystematik.

§ 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB setzt voraus, dass der Pflichtteilsberechtigte „nicht Erbe ist“. Die Vorschrift differenziert nicht nach dem Grund der fehlenden Erbenstellung. Ihr Wortlaut umfasst sowohl die Enterbung des Pflichtteilsberechtigten als auch dessen Erbausschlagung nach § 2306 Abs. 1 Halbsatz 1 BGB.

Ohne Erfolg wendet die Revision ein, bei einer Ausschlagung sei der Pflichtteilsberechtigte zum Zeitpunkt des Erbfalls noch Erbe gewesen. Zum einen verlangt § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB nur, dass der Pflichtteilsberechtigte nicht Erbe „ist“, nicht aber, dass er dieses zu keiner Zeit war. Zum anderen ist der „vorläufige Erbe“, der seinen Erbteil wirksam ausgeschlagen hat, nach § 1953 Abs. 1 BGB materiell-rechtlich von Anfang an als Nichterbe anzusehen. Die Erbschaft fällt dem Nächstberufenen an, der vom Erbfall an (rückwirkend) als Erbe gilt und unmittelbarer Rechtsnachfolger des Erblassers ist.

Auch § 1959 BGB spricht für diese Auslegung. Während § 1959 Abs. 2 und Abs. 3 BGB im Hinblick auf die Wirksamkeit von Rechtsgeschäften, die der vorläufige Erbe für den Nachlass getätigt hat oder die diesem gegenüber mit Wirkung für den Nachlass vorgenommen worden sind, Ausnahmen von der rückwirkenden Wirkung der Ausschlagung vorsieht (vgl. BGH NJW 1969, 1349 unter 2 b; zu § 2056 BGB-E Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Band V, Erbrecht, 1888, S. 537 f.), fehlt eine vergleichbare Ausnahmeregelung in Bezug auf das Auskunftsrecht gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB.

Für die Nichterbenstellung nach § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB ist nicht gemäß § 1922 Abs. 1 BGB auf den Zeitpunkt des Erbfalls abzustellen. Gemäß § 1942 Abs. 1 BGB steht der Von-selbst-Erwerb des berufenen Erben unter dem Vorbehalt, dass dieser sein Erbe nicht - wie der Kläger - ausschlägt.

Das Auskunftsrecht des seinen Erbteil gemäß § 2306 Abs. 1 Halbsatz 1 BGB ausschlagenden Pflichtteilsberechtigten unterläuft auch nicht eine vom Gesetz vorgenommene Unterscheidung zwischen dem pflichtteilsberechtigten Nichterben und dem pflichtteilsberechtigten Miterben. Systematisch ist die Annahme eines Auskunftsrechts vielmehr folgerichtig, weil der Ausschlagende als pflichtteilsberechtigter Nichterbe anzusehen ist.

Die Entstehungsgeschichte des § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB bestätigt diese Auslegung (vgl. zu § 1988 BGB-E Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Band V, Erbrecht, 1888, S. 409; Horn, Materialienkommentar Erbrecht § 2314 Rn. 2).

Auch der Sinn und Zweck des § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB machen keine einschränkende Auslegung der Regelung erforderlich.

Bei den Ansprüchen aus § 2314 Abs. 1 BGB handelt es sich um unselbständige Hilfsansprüche, die es dem Pflichtteilsberechtigten ermöglichen sollen, sich die notwendigen Kenntnisse zur Bemessung des Pflichtteilsanspruchs zu verschaffen. Wenn das Gesetz dem Pflichtteilsberechtigten auch für den Fall einer Erbausschlagung nach § 2306 Abs. 1 Satz 1 BGB einen solchen Pflichtteilsanspruch einräumt, ist kein Grund erkennbar, warum ihm nicht zugleich die Hilfsansprüche aus § 2314 Abs. 1 BGB zustehen sollen.

Zu Unrecht wendet die Revision ein, der Pflichtteilsberechtigte bedürfe im Falle einer Erbausschlagung keines Auskunftsanspruchs, weil ihm bis zur Ausschlagung die Auskunftsrechte eines (vorläufigen) Miterben zustünden. Der vorläufige Erbe hat bis zur Ausschlagung seines Erbteils keinen Anlass, die Höhe eines aus der Ausschlagung folgenden Pflichtteilsanspruchs zu ermitteln.

Die Entscheidung über die Annahme oder Ausschlagung einer Erbschaft wird nicht immer nur nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten getroffen. Hierfür können auch persönliche Überlegungen, etwa ein besonderes Näheverhältnis zum Erblasser oder der Ruf und das Ansehen der Beteiligten, eine Rolle spielen. Schlägt der Pflichtteilsberechtigte seinen Erbteil aus einem solchen Motiv aus, ist er zur späteren Ermittlung der Höhe des Pflichtteilsanspruchs auf die Informationen des Erben über den Bestand und Wert des Nachlasses angewiesen.

Selbst wenn der vorläufige Erbe seinen Erbteil aus wirtschaftlichen Erwägungen ausschlägt, braucht er es nicht für nötig zu halten, die genaue Höhe seines Pflichtteilsanspruchs zu ermitteln. Ihm kann es beispielsweise genügen, den Wert seines Erbteils und die Höhe seines Pflichtteilsanspruchs zur Vermeidung einer Entscheidung „ins Blaue hinein“ nur ungefähr in Erfahrung zu bringen und dadurch in Relation setzen zu können. Für eine exakte Berechnung kann sich die nach § 1944 Abs. 1 BGB sechswöchige Ausschlagungsfrist im Einzelfall als knapp erweisen.

Der ausschlagende Pflichtteilsberechtigte erhält durch den Auskunftsanspruch nach § 2314 Abs. 1 BGB nicht mehr Rechte als die eines Miterben (vgl. OLG Celle ZEV 2006, 557 unter I 1). Da der Pflichtteilsberechtigte nach der Ausschlagung selbst keinen Zugriff auf den Nachlass mehr hat, benötigt er zur Berechnung seines Anspruchs die weiterreichenden Auskunftsrechte des § 2314 Abs. 1 BGB. Seine tatsächliche Lage ist nicht mit der eines Miterben vergleichbar, sondern mit der eines pflichtteilsberechtigten Nichterben nach § 2303 Abs. 1 Satz 1 BGB.

Der Kläger braucht nicht darzulegen, dass er seinen Erbteil wegen Beschränkungen oder Beschwerungen des Nachlasses ausgeschlagen hat. Die Erklärung braucht nur den Willen erkennen zu lassen, dass der Erbe nicht Erbe sein oder die Erbschaft nicht annehmen will (vgl. BayObLG NJW 1967, 1135 unter II 4; Grüneberg/Weidlich, BGB 81. Aufl. § 1945 Rn. 1).

Praxishinweis

Diese in jeder Hinsicht überzeugende höchstrichterliche Entscheidung beendet einen jahrzehntelangen Streit in wünschenswerter Deutlichkeit. Dieser Meinungsstreit geht auf eine unzureichend begründete Entscheidung des OLG Celle vom 6.7.2006 zurück (Damrau, ZEV 2006, 557). Besonders hervorzuheben an der Argumentation des BGH ist dessen Hinweis auf die außergewöhnlich kurz bemessene, sechswöchige Ausschlagungsfrist als Rechtfertigung für die Erforderlichkeit des Auskunftsanspruchs des Pflichtteilsberechtigten. In dieser kurzen Zeitspanne kann – außer in einfach gelagerten Fällen – niemand den Wert des Nachlasses abschätzen. Schon deshalb war die vom Senat des OLG Celle vertretene Auffassung nicht vertretbar. Umso mehr ist diese höchstrichterliche Grundsatzentscheidung zu begrüßen. Sie schafft Klarheit und Rechtssicherheit in dieser für ausschlagende pflichtteilsberechtigte Erben so wichtigen Frage.

BGH, Urteil vom 30.11.2022 - IV ZR 60/22, BeckRS 2022, 37316