Urteilsanalyse

Aus­gleichs­an­spruch eines Flug­gas­tes nach In­sol­venz der Luft­fahrt­ge­sell­schaft
Urteilsanalyse
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Wer­den im Zuge der vom In­sol­venz­ver­wal­ter vor­ge­nom­me­nen Er­fül­lung einer In­sol­venz­for­de­rung an­de­re Rech­te oder Rechts­gü­ter des In­sol­venz­gläu­bi­gers ver­letzt oder ge­schä­digt, sind die hier­aus fol­gen­den An­sprü­che nach An­sicht des BGH Mas­se­ver­bind­lich­kei­ten.

12. Mai 2023

Rechts­an­walt Ste­fa­no Buck, Fach­an­walt für In­sol­venz­recht, Schult­ze & Braun Rechts­an­walts­ge­sell­schaft für In­sol­venz­ver­wal­tung mbH

Aus beck-fach­dienst In­sol­venz­recht 09/2023 vom 11.05.2023

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Sach­ver­halt

Ein Mann buch­te für sich und seine Be­glei­tung zwei Flüge von Frank­furt am Main nach Sa­ma­ra und zu­rück für De­zem­ber 2019. Nach Be­zah­lung der Ti­ckets und vor Flug­an­tritt fiel die Luft­fahrt­ge­sell­schaft in die In­sol­venz. In Ei­gen­ver­wal­tung setz­te sie den Flug­be­trieb fort, so dass die Flüge statt­fin­den konn­ten. Auf dem Rück­flug kamen die Pas­sa­gie­re mit einer vier­stün­di­gen Ver­spä­tung ans Ziel. Da­nach kam ein In­sol­venz­plan zu­stan­de und das In­sol­venz­ver­fah­ren wurde auf­ge­ho­ben. Der Mann ver­lang­te wegen der Ver­spä­tung für sich und aus ab­ge­tre­te­nem Recht sei­ner Be­glei­tung eine Aus­gleichs­zah­lung von je 600 EUR plus Zin­sen. Das AG Rüs­sels­heim ge­stand ihm die Zah­lung nur in Höhe der Plan­quo­te zu, das LG Darm­stadt ver­ur­teil­te die Ge­sell­schaft zur Zah­lung der voll­stän­di­gen For­de­rung. Die Re­vi­si­on der Flug­ge­sell­schaft vor dem BGH blieb ohne Er­folg.

Ent­schei­dung

Grund­la­ge des Be­geh­rens des Klä­gers sei Art. 7 Abs. 1 Satz 1 lit. c Flug­gast­rech­te­VO. Bei gro­ßer, d. h. min­des­tens zweit­stün­di­ger Ver­spä­tung ihres Flu­ges bei der An­kunft stehe den Flug­gäs­ten ein Aus­gleichs­an­spruch nach die­ser Be­stim­mung zu (vgl. EuGH NJW 2022, 3343).

Die tat­be­stand­li­chen Vor­aus­set­zun­gen eines Aus­gleichs­an­spru­ches seien er­füllt. Der vom Klä­ger ge­buch­te Flug sei mit gro­ßer Ver­spä­tung am Ziel an­ge­kom­men. Dar­über be­stehe zwi­schen den Par­tei­en Ei­nig­keit. Die Höhe des An­spruchs folge aus Art. 7 Abs. 1 Satz 1 lit. c Flug­gast­rech­te­VO.

Ent­ge­gen der An­sicht der Re­vi­si­on könn­ten die An­sprü­che des Klä­gers nicht gem. §§ 254 Abs. 1, 254b InsO nur nach Ma­ß­ga­be des In­sol­venz­plans gel­tend ge­macht wer­den. Es han­de­le sich viel­mehr um Mas­se­ver­bind­lich­kei­ten gem. § 55 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 InsO, auf wel­che der In­sol­venz­plan, wie sich aus § 217 InsO er­ge­be, kei­nen Ein­fluss habe (BGH WM 2021, 1197). Der In­sol­venz­plan re­ge­le hier keine Mas­se­ver­bind­lich­kei­ten.

Dazu, ob ein Aus­gleichs­an­spruch nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 lit. c Flug­gast­rech­te­VO eine Masse- oder eine In­sol­venz­for­de­rung dar­stel­le, wenn der Flug vor der Er­öff­nung des In­sol­venz­ver­fah­rens über das Ver­mö­gen der Flug­ge­sell­schaft ge­bucht und be­zahlt, der Flug aber erst nach Er­öff­nung durch­ge­führt wor­den sei und sich ver­spä­tet habe, gebe es keine ge­setz­li­chen Re­ge­lun­gen. Al­ler­dings er­ge­be sich aus Art. 7 Abs. 1 der Flug­gast­rech­te­VO, dass für das In­sol­venz­ver­fah­ren und seine Wir­kun­gen das In­sol­venz­recht des Mit­glieds­staa­tes gelte, in des­sen Ho­heits­ge­biet das Ver­fah­ren er­öff­net wor­den sei. Dies sei im Streit­fal­le Deutsch­land, so dass deut­sches Recht ma­ß­geb­lich sei (vgl. Gan­ter, NZI 2022, 696).

Die Be­för­de­rungs­an­sprü­che des Klä­gers stell­ten nach der Er­öff­nung des In­sol­venz­ver­fah­rens In­sol­venz­for­de­run­gen nach § 38 InsO dar. Sie seien vor der Er­öff­nung des In­sol­venz­ver­fah­rens be­grün­det wor­den.

Dass der Klä­ger und die wei­te­re Per­son tat­säch­lich be­för­dert wor­den seien, än­de­re hier­an nichts.

Eine Mas­se­ver­bind­lich­keit ent­ste­he je­doch dann, wenn der In­sol­venz­ver­wal­ter oder der ei­gen­ver­wal­ten­de Schuld­ner bei der Er­fül­lung der In­sol­venz­for­de­rung die Rech­te des In­sol­venz­gläu­bi­gers ver­let­ze, die­sen schä­di­ge oder in an­de­rer Weise zu­sätz­li­che Rech­te für die In­sol­venz­mas­se auf Kos­ten des In­sol­venz­gläu­bi­gers in An­spruch nehme. Die große Ver­spä­tung eines Flu­ges sei eine sol­che Ver­let­zung von Rech­ten des In­sol­venz­gläu­bi­gers. Der ir­rever­si­ble Zeit­ver­lust von drei Stun­den oder mehr sei da­nach ein Scha­den, der einen Aus­gleichs­an­spruch nach Art. 7 Flug­gast­rech­te­VO zur Folge habe (vgl. EuGH NJW 2010, 43).

Pra­xis­hin­weis

Die Flug­gast­rech­te­VO war im vor­lie­gen­den Fall auch an­wend­bar. Ihre An­wen­dung war nicht nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Flug­gast­rech­te­VO aus­ge­schlos­sen. Da­nach gilt diese nicht für Flug­gäs­te, die kos­ten­los be­för­dert wer­den. Kos­ten­los rei­sen Flug­gäs­te, die kein Ent­gelt ent­rich­tet haben. Dazu ge­hö­ren Klein­kin­der, die kei­nen Flug­preis ent­rich­ten und ohne Sitz­platz­an­spruch auf dem Schoß der El­tern rei­sen, eben­so wie Flug­per­so­nal, das etwa einen Flug un­ent­gelt­lich als dienst­li­chen Zu­brin­ger­flug nutzt (vgl. BGH WM 2015, 1304). Die An­sprü­che, wel­che die Flug­gast­rech­te­VO ge­währt, sind davon ab­hän­gig, dass der Flug­gast seine Be­för­de­rung mit einem Ent­gelt er­kauft hat (BGHZ 231, 137). Hier­auf wies der Senat er­gän­zend hin.

BGH, Ur­teil vom 09.03.2023 - IX ZR 91/22 (LG Darm­stadt), BeckRS 2023, 7738