Interview
Ausblutende Anwaltschaft?
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Der Anwaltsberuf scheint an Attraktivität zu verlieren: Immer mehr jüngere Berufsträger hängen ihre Robe an den Nagel und wechseln in die Justiz oder die Wirtschaft. Eine Gefahr für den Rechtsstaat? Darüber haben wir mit dem Anwaltsforscher Matthias Kilian ge­sprochen – und darüber, was man dagegen tun kann.

7. Jul 2022

NJW: Mehr Rechtsanwälte unter 40 gaben nach den neuesten Zahlen freiwillig ihre Zulassung zurück als Kollegen über 60: 2019 verzichteten 52 % der Jüngsten und nur 48 % der deutlich Älteren; 2018 war dies bereits ähnlich. Woran mag das liegen?

Kilian: Die Zahl der Junganwälte, die nach kurzer Anwaltstätigkeit ihre Zulassung zurückgeben, ist in der Tat bedenklich hoch – wenn man sich vor Augen führt, dass alle volljuristischen Berufe ihren Nachwuchs seit einem Jahrzehnt aus einem Pool von maximal 7.500 frisch examinierten Assessoren pro Jahr rekrutieren können, ist es für die Anwaltschaft ein Problem, wenn aktuell jährlich mehr als 1.500 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte unter 40 ihre Zulassung zurückgeben. Bereits die letzte „Junge Anwälte“-Studie des Soldan Instituts hatte verdeutlicht, dass das Interesse des Nachwuchses an der klassischen anwaltlichen Karriere­leiter, die früher oder später einen Wechsel in das ­Unternehmertum als Partner oder Inhaber einer Kanzlei vorsieht, geringer geworden ist. Das hat auch, aber nicht nur damit zu tun, dass Frauen seit einigen Jahren in allen Phasen der juristischen Ausbildung die Mehrheit der Nachwuchsjuristen stellen. Sie haben auf dem juristischen Arbeitsmarkt von jeher mehrheitlich etwas andere Karrierepräfenzen als Männer. Auf diese ge­änderten Erwartungen geben viele Kanzleien offensichtlich weiterhin unbefriedigende Antworten, so dass bei Junganwälten nach einigen Jahren stärker als früher der Absprung in andere juristische Berufe erfolgt.

NJW: Ohnehin gibt es viele Titularanwälte – so wegen einer Befreiung für eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst nach § 47 BRAO, Teilzeit oder Familienpause. Haben die einen großen Anteil an der Entwicklung?

Kilian: Nein, die verdecken eher das Ausmaß des Problems. Würde man die Statistik um Rechtsanwälte bereinigen, die nicht aktiv am Markt tätig sind, und zudem in Vollzeitäquivalenten rechnen, wie dies bei der Richterstatistik von jeher der Fall ist, kämen wir nur auf wenig mehr als 100.000 in Kanzlei niedergelassene Rechtsanwälte. Was kaum wahrgenommen wird, ist der hohe Anteil von Teilzeitanwälten – das sind mittler­weile rund 25 % der Berufsträger. Bei Rechtsanwältinnen übrigens häufig wegen familiärer Verpflichtungen, bei Männern wegen der Ausübung eines Zweitberufs.

NJW: Laut der Bundesagentur für Arbeit herrscht unter Juristen kaum unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Stehen Junganwälten also auch anderswo alle Türen offen?

Kilian: Ja, zweifelsfrei. Es ist sicherlich nicht übertrieben zu sagen, dass der Arbeitsmarkt für junge Juristen so günstig ist wie seit Jahrzehnten nicht. Bei weiterhin eher geringen Absolventenzahlen – hier liegen wir immer noch rund 25 % unter den Spitzenwerten der „Nullerjahre“ – nehmen die Zahl der altersbedingt aus dem Arbeitsmarkt ausscheidenden Volljuristen und ­damit der Ersatzbedarf stark zu. Ergebnis ist der überall festzustellende „war for talents“, den die einen mit immer höheren Einstiegsgehältern, die anderen mit ­abgesenkten Anforderungen an die Bewerber führen.

NJW: Können sich Kanzleien im Wettbewerb mit der Justiz und Unternehmen schlechter verkaufen?

Kilian: Absolventen der Gegenwart kommen aus der ­sogenannten Generation Y, sind die „Millenials“. Die ­Soziologie hat herausgearbeitet, dass für ihre Ange­hörigen ein sicherer Arbeitsplatz ohne unternehme­rische Verantwortung, familienkompatible Arbeitsmodelle, das Haushalten mit Kräften, Arbeiten im Team statt in Hierarchien, klare Grenzziehungen zwischen Arbeits- und Privatleben besonders wichtig sind – bei gleichzeitig eher gering ausgeprägter Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber. Die klassische Kanzleiwelt kann diese Erwartungen nur sehr eingeschränkt erfüllen – und dem Lockruf des Geldes erliegen Millenials häufig nicht.

NJW: Hat die berufsrechtliche Anerkennung des Syndikusanwalts eine Position in der Wirtschaft attraktiver gemacht? Deren Zahl wächst jedenfalls weiterhin.

Kilian: Die Statistik kann hier in die Irre führen. Die Zahl wächst vor allem, weil zunehmend Alt-Syndikusanwälte ohne Zulassung nach § 46 BRAO, die mit ihrer rein anwaltlichen Zulassung Bestandsschutz genießen, ausscheiden, während neu Zugelassene zwingend die Zulassung brauchen, um ins Versorgungswerk zu kommen. Und denen ist es sehr häufig wichtig, nicht nur Syndikusrechtsanwalt, sondern auch Rechtsanwalt zu sein – 80 % verfügen über eine Doppelzulassung.

NJW: Haben durch den deutlichen Rückgang der Absolventenzahlen schwächere Kandidaten jetzt mehr Chancen in Justiz, Unternehmen und Verbänden?

Kilian: Natürlich. Die Rechnung ist ja ganz einfach – 25 oder 30 % weniger Absolventen heißt auch 25 oder 30 % weniger Absolventen mit Prädikatsexamina. Bei gleichbleibendem oder sogar wachsendem Bedarf müssen Arbeitgeber ihre Anforderungen zwangsläufig anpassen – nicht nur bei den Noten, sondern zum Beispiel auch bei Altersgrenzen. Das sieht man in der Justiz: Wer vor zehn oder 20 Jahren dort keine Chance gehabt hätte, kann sich heute durchaus Hoffnungen machen.

NJW: Die Präsidentin der RAK Sachsen Sabine Fuhrmann sagt, der Anwaltsberuf werde zunehmend zu ­einem „transitional job“. Ein Grund zur Sorge?

Kilian: Das hängt sicherlich davon ab, wen man fragt – eine recht große Teilgruppe der Anwaltschaft hat uns jüngst berichtet, dass die rückläufigen Anwaltszahlen das Mandatsaufkommen verbessert haben und erlauben, vermehrt uninteressante Mandate abzulehnen ­sowie höhere Vergütungen durchzusetzen. Das mag erfreulich für die betroffenen Rechtsanwälte sein, für Rechtsuchende ist dies keine frohe Kunde. Denn die am stärksten besetzten Anwaltsjahrgänge kommen erst in zehn bis 15 Jahren ins Ruhestandsalter. Wenn es nicht gelingt, die zur Befriedigung des Ersatzbedarfs benötigten Junganwälte wesentlich besser in der Anwaltschaft zu halten, wird es zu weiteren Rückgängen der Zahlen kommen. Auf Angebot und Preise am Rechtsdienstleistungsmarkt wird dies zwangsläufig Auswirkungen haben – möglicherweise aber auch zu poli­tischem Druck führen, das Rechtsdienstleistungsrecht zu Lasten der Anwaltschaft weiter zu liberalisieren.

NJW: DAV-Präsidentin Edith Kindermann warnt vor ­einem „Ausbluten in der Fläche“. Sie selbst rechnen für 2030 mit einem Rückgang auf 121.000 bis 132.000 „Nur-Anwälte“. Zu wenige für unseren Rechtsstaat?

Kilian: Wirtschaftskanzleien in Ballungsräumen sind weniger betroffen als die Anwaltschaft auf dem Land. Wenn in Mecklenburg-Vorpommern die Zahl der Anwälte binnen zehn Jahren um 300 auf aktuell noch knapp 1.300 zurückgegangen ist, stellt sich die Frage, wie es um dem Zugang zum Recht, insbesondere zu spezialisiertem Rechtsrat, bestellt ist. Probleme wird es zuerst für Verbraucher in ländlich geprägten Regionen geben – und angesichts der geschlechtsspezifischen Wandels des Berufsstands in traditionell von männ­lichen Berufsträgern abgedeckten Rechtsgebieten.

NJW: Welche Rolle spielt Legal Tech?

Kilian: Meines Erachtens keine nennenswerte. Letztlich tummeln sich diese Anbieter in relativ engen Nischen, so dass die breite Masse der Anwaltschaft nicht betroffen ist. Eher ist die Frage, ob Legal Tech nicht dort wichtig wird, wo eine kleiner gewordene Anwaltschaft keine Kapazitäten oder fachlich kein Interesse mehr hat, bestehende Nachfrage zu bedienen.

NJW: Was kann oder sollte man dagegen tun?

Kilian: Klären, warum bei Schulabgängern ein nicht-­traditionelles Jurastudium, das nicht zur Befähigung zum Richteramt führt, immer beliebter wird. Karrierekonzepte und Arbeitsmodelle anbieten, die den Erwartungen von Gen Y und Gen Z besser gerecht werden. Stärkeres staatliches Engagement bei der Sicherung des Zugangs zum Recht im ländlichen Raum. Eine Moderni­sierung der Fachanwaltsordnung. Verstehen, dass alle juristischen Berufe zur Bewältigung der Nachwuchskrise an einem Strang ziehen müssen, weil sonst Pro­bleme nicht gelöst, sondern nur verlagert werden.

Prof. Dr. Matthias Kilian ist Direktor des Instituts für Anwaltsrecht der Universität zu Köln und des Soldan Instituts. Außerdem ist er Partner einer interprofessionellen Sozietät mit ruhender Anwaltszulassung.

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Interview: Prof. Dr. Joachim Jahn.