Urteilsanalyse
Aus AKB keine generelle Pflicht zur Verständigung der Polizei nach Unfall
Urteilsanalyse
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Knüpft die Formulierung eines Versicherers in den AKB 2015 an den Tatbestand der Unfallflucht an, lässt dies für einen verständigen Versicherungsnehmer den Schluss zu, dass sich seine versicherungsrechtlichen Obliegenheiten mit den an ihn gestellten strafrechtlichen Verhaltensanforderungen nach § 142 Abs. 1 StGB decken und ihm versicherungsrechtlich keine weitergehenden Pflichten auferlegt werden. Dies hat das Landgericht Kassel entschieden.

5. Jan 2022

Anmerkung von
Senator E. h. Ottheinz Kääb, LL.M., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht, München

Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 25/2021 vom 22.12.2021

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StGB § 142 I Nr. 2; VVG § 28; AKB 2015 E.1.1.3, E.1.3.3

Sachverhalt

Der Kläger unterhält bei der Beklagten eine Fahrzeugvollversicherung mit einer Selbstbeteiligung in Höhe von 300 EUR. In den vom Kläger mit der Beklagten vereinbarten AKB ist unter anderem folgendes ausgeführt:

«Anzeigepflicht: E.1.1.1. Sie sind verpflichtet, uns jedes Schadensereignis, das zu einer Leistung durch uns führen kann, innerhalb einer Woche anzuzeigen. (...) E.1.1.3 Sie müssen alles tun, was zur Aufklärung des Versicherungsfalls und des Umfangs dienen kann. Sie dürfen den Unfallort nicht verlassen, ohne die gesetzlich erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen und die dabei gesetzlich erforderliche Wartezeit zu beachten (Unfallflucht).

«Anzeige bei der Polizei: E.1.3.3 Übersteigt der Schaden durch Entwendung, Brand oder Zusammenstoß des in Fahrt befindlichen Fahrzeugs mit Tieren den Betrag von 150 EUR, sind Sie verpflichtet, das Schadenereignis der Polizei unverzüglich anzuzeigen.»

Der Kläger meldete im Mai 2020 ein Schadensereignis. Er behauptet, er sei auf der Autobahn durch einen Tunnel gefahren. Am Ende des Tunnels sei er in einen heftigen Hagel- und Graupelschauer geraten, wobei die Fahrbahn sofort rutschig gewesen sei. Das Fahrzeug sei ins Schleudern gekommen, er sei mit der linken Fahrzeugseite an die Mittelleitplanke geraten und dort entlanggeschlittert. Er habe gegensteuern können, sei dann aber an die rechte Leitplanke gestoßen und schließlich auf dem rechten Seitenstreifen zum Stehen gekommen. An den Leitplanken habe er keine Schäden feststellen können. Dann habe er die Autobahnpolizeistellte angerufen, die ihm aber mitgeteilt habe, dass sie im Moment niemanden schicken könne. Er rief sodann den ADAC an, der ihm einen Abschleppwagen organisierte. Bis zum Eintreffen des Abschleppwagens habe er etwa eine dreiviertel Stunde mit seinen Wageninsassen gewartet.

Der Kläger ist der Meinung, dass aus den vereinbarten AKB nicht zu entnehmen sei, dass er stets die Polizei zu einem Unfallereignis hinzurufen müsse. Es sei auch nicht ersichtlich, welche Maßnahmen bei förmlicher Aufnahme des Unfalls oder noch längerem Verweilen des Klägers an der Unfallstelle hätten getroffen werden können. Er habe sich deshalb nicht vorsätzlich von der Unfallstelle entfernt und schon gar nicht arglistig gehandelt.

Die Beklagte beruft sich auf die AKB.

Rechtliche Wertung

Das Gericht hat die Beifahrer als Zeugen vernommen. Diese haben zwar nicht alle «wortgleich» das selbe ausgesagt, das Kerngeschehen aber bestätigt. 

Mit seiner Klage hat der Kläger Erfolg. Das Gericht verwies darauf, dass die hier vereinbarten AKB gerade durch ihren Verweis auf «Unfallflucht» nicht mehr transparent seien. Ein «normaler» Versicherungsnehmer müsse davon ausgehen, dass der Kläger völlig korrekt gehandelt habe. Dass er nicht in der Minute des Unfalls sofort alles richtig und vollständig ausgeführt habe, sei dem Unfallschock ohne weiteres zuzurechnen.

Die Formulierung in E.1.1.3 AKB 2015 knüpfe an den Tatbestand der Unfallflucht gemäß § 142 Abs. 1 StGB an, indem der Fahrer verpflichtet werde, den Unfallort nicht zu verlassen, ohne die «gesetzlich erforderlichen» Feststellungen zu ermöglichen und dabei auch die «gesetzlich erforderliche Wartezeit» zu beachten. Auch der Hinweis auf die «Unfallflucht» im Text lasse für einen verständigen Versicherungsnehmer den Schluss zu, dass sich seine versicherungsrechtlichen Obliegenheiten mit den an ihn gestellten strafrechtlichen Verhaltensanforderungen nach § 142 Abs. 1 StGB decken und ihm versicherungsrechtlich keine weitergehenden Pflichten auferlegt werden.

Eine Pflicht, vor Verlassen des Unfallorts stets die Polizei zu rufen, wenn innerhalb der Wartefrist des § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB keine feststellungsbereiten Personen eintreffen, bestehe aber nach § 142 StGB gerade nicht. Eine weitergehende Obliegenheit würde voraussetzen, dass diese in den Versicherungsbedingungen einen Anknüpfungspunkt findet, der dem Versicherungsnehmer verdeutlicht, dass von ihm nicht lediglich die Einhaltung der Wartezeit, sondern weitergehende Aktivitäten gegenüber der Polizei oder der Versicherung erwartet werden. Eine solcher Anknüpfungspunkt finde sich in den AKB nicht.

Die in E.1.3.3 AKB 2015 normierte Verpflichtung, das Schadensereignis unverzüglich bei der Polizei anzuzeigen, sei unzweifelhaft auf bestimmte - hier nicht vorliegende – Schäden beschränkt, nämlich auf einen Entwendungs-, Brand- oder Wildschaden, der einen bestimmten Betrag übersteigt.

Praxishinweis

Die Entscheidung setzt sich mit der Rechtsprechung eingehend auseinander. Die Schäden bei einer «Unfallflucht», die dann bei der Kaskoversicherung geltend gemacht sind, sind ja in der Tat nicht gerade selten, sondern gehören zum «Tagesgeschäft» des Verkehrsrechtlers. Die Entscheidung ist daher für die Praxis von Bedeutung.

LG Kassel, Urteil vom 24.08.2021 - 5 O 37/21, BeckRS 2021, 34306