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Tatbestandsverschiebung
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Ein „VB“ – also ein Vollbefriedigend in der Ersten Staatsprüfung – ist für das Gros der Kandidaten ein unerreichbares Traumziel. Doch ein Nachwuchsjurist, der dies mit 11,18 Punkten erreicht hatte, wollte noch höher hinaus. Vor dem VGH Mannheim hatte er teilweise Erfolg: Die Richter verdonnerten das Landesjustizprüfungsamt von Baden-Württemberg zur Neubewertung von zwei Klausuren – sogar durch andere Prüfer. Weitere Forderungen konnte er mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde beim BVerwG allerdings nicht durchsetzen.

30. Jul 2024

Das Verfahren lässt allerhand Einblicke zu: Welche Fehler Prüfer machen können. Dass sich mit Erfolg dagegen klagen lässt. Und wie akribisch die Justiz dabei zu Werke geht. Denn während der (mutmaßlich) junge Mann vor dem VG Freiburg noch komplett baden ging, durchleuchtete der VGH Mannheim die beiden von ihm monierten Aufsichtsarbeiten in einem Urteil mit 109 Randnummern Punkt für Punkt. Dabei ging es um eine Zivilrechtsklausur, für die der Kandidat immerhin 12,0 Punkte geerntet hatte, und eine solche im Strafrecht – bei der er allerdings bloß 6,0 Punkte erzielte. In beiden Fällen kreideten die Mannheimer Richter dem jeweiligen Erst- und Zweitprüfer Fehler an; sie ordneten nicht nur eine Neubewertung an, sondern auch den Austausch der Korrektoren. Dass sie keine Revision gestatteten, ließ das BVerwG ihnen am Ende durchgehen, weil es auf den "tatbestandlichen Bewertungsrahmen" der Vorinstanz pochte. Wobei die Leipziger Bundesrichter ihnen zugestanden, die Darlegungen der Prüfer in einem maßgeblichen Punkt könnten "jedenfalls" so verstanden werden, wie der VGH dies getan habe.

Persönliche Merkmale bei Beteiligten

Dem BVerwG ging es vor allem um die sogenannte Tatbestandsverschiebung. Wer sich im Allgemeinen Teil des Strafrechts nicht (mehr) so gut auskennt: Grundlage ist § 28 II StGB, der da lautet: "Bestimmt das Gesetz, dass besondere persönliche Merkmale die Strafe schärfen, mildern oder ausschließen, so gilt das nur für den Beteiligten (Täter oder Teilnehmer), bei dem sie vorliegen." Das bedeutet, wie der Juraprofessor Hans Kudlich im BeckOK StGB erläutert: "Anders als beim lediglich strafmildernd wirkenden Abs. 1 führt Abs. 2 beim Fehlen oder Vorliegen von strafbarkeitsmodifizierenden besonderen persönlichen Merkmalen für verschiedene Beteiligte – also Täter oder Teilnehmer – zu Tatbestandsverschiebungen. Es kann nur derjenige Täter oder Teilnehmer nach dem verschärften bzw. privilegierenden Tatbestand bestraft werden, bei dem das schärfende bzw. privilegierende Merkmal auch selbst vorliegt. Die verschiedenen Beteiligten werden insoweit also aus unterschiedlichen Tatbeständen bestraft."

Kein ganz leichter Stoff für einen Prüfling im Ersten Examen, weil es hier den Meinungsstreit um das Verhältnis von Mord (§ 211 StGB) und Totschlag (§ 212 StGB) betrifft. Der Erstgutachter hatte ausgeführt: "Verf. erkennt die Problematik einer möglichen Tatbestandsverschiebung. Sodann werden Ausführungen zum Verhältnis zwischen Mord und Totschlag gemacht. Das Ergebnis wird allerdings offengelassen, da ausgeführt wird, dass A aus sonstigen niedrigen Beweggründen handelt. Hinsichtlich der nicht einfachen Frage der Tatbestandsverschiebung fehlt die letzte Detailtiefe und Präzision." Das hatte er nach Einwendungen des Klägers um den Hinweis ergänzt: „Die Korrekturbemerkung bezieht sich auch nicht auf die Methode, zunächst die verschiedenen Meinungen und deren Anwendbarkeit auf den konkreten Fall darzustellen, sondern vielmehr auf die Darstellung und Erörterung der gesamten Problematik ‚Tatbestandsverschiebung‘. Hier hätte z.B. die Frage, ob § 28 II StGB Anwendung findet, noch tiefgehender erörtert gehört." Ähnlich der Zweitgutachter.

Das ließ der VGH durchgehen. Mangelhaft fand er bei dieser Klausur hingegen die Ausführungen der Korrektoren zur "Beihilfe durch W (neutrale Alltagshandlung)" sowie zur "Beleidigung durch Übergabe eines Zettels mit der Notiz ‚A.C.A.B.‘ ". Dazu die Mannheimer Richter: "Was am Vorgehen des Klägers kritikwürdig sein soll, geht aus den Prüferstellungnahmen nicht hervor. Es ist ohne Weiteres vertretbar." Und: "Was die Prüfer in inhaltlicher Hinsicht monieren, bleibt dunkel." Ebenso gründlich zerpflückten sie die Bewertung der Zivilrechtsklausur in drei Rechtsfragen. So habe der Erstprüfer eine zitierte Norm offenbar verwechselt: "Der Verweis des Klägers auf § 168 S. 3 BGB ist weder nicht nachvollziehbar gewesen noch fehlgegangen." In einem weiteren Punkt seien die Grenzen des Bewertungsspielraums überschritten und erschienen die Ausführungen des Gutachters "gekünstelt" und "floskelhaft". Und in einem dritten Abschnitt sei das Prüfungsergebnis "nicht nachvollziehbar".

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Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der NJW-Schriftleitung, Frankfurt a. M..