Urteilsanalyse
Aufrechnung mit Beitragsrückständen in der privaten Krankenversicherung
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1. Der private Krankenversicherer ist nach § 394 Satz 2 BGB berechtigt, mit rückständigen Prämienforderungen aus einer Krankheitskostenversicherung gegen Krankentagegeldansprüche des Versicherungsnehmers aufzurechnen.

2. Ein Krankenversicherungsvertrag wird auch dann gemäß § 193 Abs. 9 Satz 1 VVG aus dem Notlagen- in den Ursprungstarif zurückgeführt, wenn die Prämienrückstände durch eine seitens des Versicherers erklärte Aufrechnung getilgt worden sind.

18. Nov 2021

Anmerkung von
Rechtsanwalt Holger Grams, Kanzlei GRAMS Rechtsanwälte, Fachanwalt für Versicherungsrecht, München

Aus beck-fachdienst Versicherungsrecht 22/2021 vom 04.11.2021

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VVG § 193 IX 1; BGB § 394 Satz 2

Sachverhalt

Das klagende Versicherungsunternehmen nimmt den Beklagten auf Zahlung rückständiger Prämien für eine Krankheitskostenversicherung in Anspruch. Der Versicherungsvertrag beinhaltet zudem unter anderem eine Krankentagegeldversicherung. Der beklagte Versicherungsnehmer zahlte seit August 2016 keine Beiträge mehr. Die Klägerin rechnete gegen mehrere Krankentagegeldansprüche des Beklagten im Oktober 2016 und im Mai 2017 mit den offenen Beitragsforderungen auf. Dabei berechnete sie in der Krankheitskostenversicherung bis April 2017 den vollen Beitrag und für Mai 2017 den Notlagentarif. Mit der Klage fordert die Klägerin für Juni 2017 Zahlung des Notlagentarifs und für die Monate Juli bis einschließlich November 2017 Zahlung des vollen Tarifs.

Der Beklagte hält die Aufrechnungen der Klägerin für unwirksam. Er sei zudem spätestens ab März 2017 nur noch im Notlagentarif versichert, der durch die Aufrechnung der Klägerin vom Mai 2017 mangels Zahlung im Sinn von § 193 Abs. 9 Satz 1 VVG nicht beendet worden sei. Gegen die Klageforderung rechnet er mit einem von ihm geltend gemachten Anspruch auf Erstattung zu viel berechneter Prämien auf. Das Amtsgericht verurteilte den Beklagten teilweise zur Zahlung (AG Ehingen, Urteil vom 13.06.2019 – 2 C 287/18, BeckRS 2019, 56852). Das Landgericht wies die Berufung des Beklagten zurück. Die vom LG zugelassene Revision des Beklagten wurde vom BGH zurückgewiesen.

Rechtliche Wertung

Der Klägerin stehe ein Anspruch auf Zahlung rückständiger Beiträge in der vom Amtsgericht ausgeurteilten Höhe zu, entschied nun der BGH. Die weitergehende Aufrechnung des Beklagten greife nicht durch. Die von der Klägerin erklärten Aufrechnungen seien gemäß § 394 Satz 2 BGB wirksam. Zwar könne gegen eine Forderung, die nicht der Pfändung unterworfen ist, keine Aufrechnung stattfinden (§ 394 Satz 1 BGB). Gegen die aus Kranken-, Hilfs- oder Sterbekassen, insbesondere aus Knappschaftskassen und Kassen der Knappschaftsvereine zu beziehenden Hebungen können jedoch geschuldete Beiträge aufgerechnet werden (§ 394 Satz 2 BGB). Hieraus werde zu Recht geschlossen, dass der Versicherer berechtigt sei, ausnahmsweise auch gegen eigentlich gemäß § 850b Abs. 1 Nr. 4 ZPO unpfändbare Forderungen aufzurechnen (BGH, Urteil vom 05.12.2018 - IV ZR 81/18, r+s 2019, 97 m.w.N., Besprechung von Günther, FD-VersR 2019, 413275).

Eine Aufrechnung mit Prämienforderungen aus der Krankheitskostenversicherung gegen Krankentagegeldansprüche sei selbst dann zulässig, wenn es sich formal um selbstständige Verträge handelt (vgl. § 192 Abs. 1, Abs. 3 und Abs. 5 VVG), die unter einer einheitlichen Vertragsnummer geführt werden, und wenn in der Krankentagegeldversicherung keine Rückstände bestanden. § 394 Satz 2 BGB sei so auszulegen, dass er dem privaten Krankenversicherer auch die Aufrechnung mit Prämienforderungen aus der Krankheitskostenversicherung gegen Krankentagegeldansprüche des Versicherungsnehmers ermöglicht.

Eine einschränkende Auslegung dahin, dass die Aufrechnung nur gegen auf demselben Vertrag beruhende und damit konnexe Ansprüche zulässig sein solle, sei mit dem Regelungszweck nicht vereinbar. § 394 Satz 2 BGB unterscheide sich insofern von § 35 VVG, der eine qualifizierte Konnexität voraussetze. Diese Einschränkung sei deshalb geboten, weil § 35 VVG zugunsten des Versicherers auf die nach § 387 BGB erforderliche Gegenseitigkeit der Forderung verzichte. § 394 Satz 2 BGB mache dagegen keine Ausnahme vom Gegenseitigkeitsverhältnis und stelle nur auf der jeweiligen Kasse geschuldete Beiträge ab.

Aufgrund der wirksamen Aufrechnung der Klägerin vom Mai 2017 habe gemäß § 193 Abs. 9 Satz 1 VVG («Sind alle rückständigen Prämienanteile einschließlich der Säumniszuschläge und der Beitreibungskosten gezahlt, …») das Ruhen der Krankenversicherung geendet, so dass der Beklagte ab Juli 2017 wieder zur Zahlung des Normaltarifs verpflichtet gewesen sei. Die Aufrechnung der Klägerin stehe insoweit einer Zahlung des Versicherungsnehmers gleich. Ein voluntatives Element auf Seiten des Versicherungsnehmers sei für die Rückkehr in den Normaltarif nicht erforderlich. Eine willentliche Zahlung setze der Wortlaut der Vorschrift nicht voraus, wofür die passivische Formulierung «Sind … gezahlt …» spreche. Nach dem Wortlaut der Norm reiche auch eine Zahlung eines Dritten, etwa eines Mitversicherten, aus.

Ein abweichender Wille des Gesetzgebers ergebe sich auch weder aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 17/13079 S. 7, 9) noch aus Sinn und Zweck der Norm. Ziel der Einführung des Notlagentarifs sei gewesen, die Beitragsschuldner vor weiterer Überschuldung zu schützen, eine Notfallversorgung zu gewährleisten und das Kollektiv der Versichertengemeinschaft finanziell zu entlasten (s. BGH, Urteil vom 05.12.2018 - IV ZR 81/18, r+s 2019, 97, Besprechung von Günther, FD-VersR 2019, 413275). Diese Ziele würden nicht vereitelt, wenn der Versicherer mit rückständigen Prämienforderungen gegen Leistungsansprüche aufrechnet. Vielmehr werde eine weitere Überschuldung des Beitragsschuldners vermieden, wenn Prämienrückstände durch Aufrechnung getilgt werden. Das Ziel einer Notfallversorgung bleibe davon unberührt. Im Übrigen sei gemäß § 193 Abs. 7 Satz 4 VVG ein Wechsel in den oder aus dem Notlagentarif ausgeschlossen. Dem Versicherungsnehmer sei eine freie Wahl zwischen Normal- und Notlagentarif verwehrt. Nach der gegenteiligen Auffassung werde dem Versicherungsnehmer sogar eine von diesem gewollte Rückkehr in den früheren Tarif im Falle einer Aufrechnung versperrt. Dies werde auch den Interessen der Versichertengemeinschaft nicht gerecht.

Praxishinweis

Der Versicherungssenat des BGH hatte bereits entschieden, dass eine Aufrechnung des privaten Krankenversicherers mit rückständigen Beiträgen gegen Kostenerstattungsansprüche des Versicherungsnehmers aus der Krankheitskostenversicherung auch im Notlagentarif zulässig ist. Nun hat der Senat klargestellt, dass auch eine Aufrechnung gegen Krankentagegeldansprüche zulässig ist.

Zudem hat der Senat die bislang umstrittene Frage entschieden, ob das Ruhen des Normaltarifs auch durch eine Aufrechnung des Versicherers beendet werden kann (so auch bisher BeckOK VVG/Gramse, § 193 VVG Rn. 62 [Stand: 09.08.2021]; Prölss/Martin/Voit, VVG 31. Aufl. § 193 Rn. 53). Die Gegenauffassung, wonach es einer willensgetragenen Zahlung des Versicherungsnehmers bedarf, wurde vertreten von LG Bonn, r+s 2017, 148; AG Medebach, r+s 2018, 27; Muschner in Langheid/Rixecker, VVG 6. Aufl. § 193 Rn. 90. Der Auffassung des BGH ist aus den dargestellten Gründen zuzustimmen.

BGH, Urteil vom 29.09.2021 - IV ZR 99/20 (LG Ulm), BeckRS 2021, 30880