Urteilsanalyse
Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung mangels Besuchs des Mandanten in der JVA
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Das Vertrauensverhältnis zwischen Pflichtverteidiger und seinem Mandanten ist nach einem Beschluss des LG München I zerstört, wenn der Verteidiger seinen Mandanten trotz eines schwerwiegenden Vorwurfs über fünf Monate nicht in der JVA besucht.

19. Apr 2021

Anmerkung von 
Rechtsanwältin Simone Breit, Knierim und Kollegen, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 08/2021 vom 15.04.2021

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Sachverhalt

Das AG erließ gegen den B Haftbefehl wegen des dringenden Verdachts des schweren Bandendiebstahls in sechs tatmehrheitlichen Fällen. Dieser Haftbefehl wurde B eröffnet und der im Termin anwesende Rechtsanwalt P als Pflichtverteidiger beigeordnet. P beantragte Akteneinsicht. Darauf zeigte Rechtsanwalt R seine Verteidigung an, die er mittels Vollmacht nachwies. Dieser beantragte mit weiterem Schreiben, den P zu entpflichten und ihn selbst als Pflichtverteidiger zu bestellen. Zur Begründung trägt er vor, P habe B noch nie in der JVA besucht. Dies begründe einen unwiederbringlichen Vertrauensverlust.

Das AG lehnt den Antrag ab. Das Gericht führte im Wesentlichen an, eine Zerstörung des Vertrauensverhältnisses lasse sich nicht allein daraus schließen, dass zwei Monate lang kein Verteidigerbesuch erfolgt sei, zumal R nicht vorgetragen habe, dass ein konkreter Beratungsbedarf bestanden habe. Gegen diesen Beschluss legte R im Auftrag des B Beschwerde mit der Begründung ein, das Rechtsinstitut der Pflichtverteidigung laufe leer und es drohe der Verlust wichtiger Verteidigungsrechte, wenn B nicht von seinem Pflichtverteidiger besucht und umfassend beraten werde. Die StA beantragt, der Beschwerde nicht abzuhelfen. Insbesondere sei weder im Antrag noch in der Beschwerde eine Begründung angeführt, welcher konkrete Beratungsbedarf bestanden und einen Besuch erforderlich gemacht habe. Das AG half der Beschwerde nicht ab.

Das LG gewährte P rechtliches Gehör. P gab an: Es sei richtig, dass er seinen Mandanten bislang in der JVA nicht besucht habe. Dies sei allerdings auf das Andauern des Ermittlungsverfahrens und die Corona-Pandemie zurückzuführen. Er habe sich im Rahmen der Haftbefehlseröffnung mit B besprochen und vereinbart, dass ein Besuch in der JVA erst nach Akteneinsicht erfolgen solle. Anfang Februar 2020 habe er dann zwar Akteneinsicht erhalten, jedoch sei das Ermittlungsverfahren noch nicht abgeschlossen und der Akteninhalt nicht vollständig gewesen. Außerdem habe er nach Verhängung der Ausgangsbeschränkungen durch die bayerische Staatsregierung seine in Haft befindlichen Mandanten angeschrieben und um Verständnis dafür gebeten, dass nur in „äußerst dringenden Fällen“ ein Besuch in der JVA stattfinden könne. In solchen äußerst dringlichen Fällen habe er um entsprechende Mitteilung gebeten, die durch B aber nicht erfolgt sei.

Entscheidung

Die Beschwerde des B sei statthaft und auch sonst zulässig.

Die Bestellung des P sei aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, weil das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört sei. Endgültig zerstört sei das Vertrauensverhältnis, wenn zu besorgen sei, dass die Verteidigung objektiv nicht mehr sachgerecht geführt werden könne. Das ist vom Standpunkt eines vernünftigen und verständigen Beschuldigten zu beurteilen. Als eine grobe Pflichtverletzung, die nicht bloß ein unzweckmäßiges oder prozessordnungswidriges Verhalten darstelle, werde insbesondere die Unwilligkeit oder Untätigkeit des Pflichtverteidigers gezählt. Ein solcher Fall des erschütterten Vertrauensverhältnisses liege nach ständiger Rspr. auch vor, wenn ein inhaftierter Beschuldigter längere Zeit nicht von seinem Verteidiger besucht werde.

Vorliegend seien Verteidigerbesuche seit über 5 Monaten nicht erfolgt. P habe zuletzt bei der Haftbefehlseröffnung mit dem B gesprochen und vereinbart , dass ein Besuch nach Akteinsicht erfolgen solle. Bereits Anfang Februar 2020 sei jedoch Akteneinsicht gewährt worden. Selbst wenn die Akte unvollständig oder das Ermittlungsverfahren noch nicht weit vorangeschritten sein sollte, wie P vorbringt, mache dies dennoch den angekündigten Besuch in der JVA nicht entbehrlich.

Des Weiteren traten die von P angeführten Kontaktbeschränkungen der bayerischen Landesregierung bekanntlich erst am 21.3.2020 in Kraft, also rund sieben Wochen nach Akteneinsicht und 2 Monate nach dem letzten Treffen zwischen P und B. Warum ein Besuch in der Zwischenzeit nicht erfolgt sei, lege P nicht dar.

Ferner erscheine auch das Rundschreiben von P an seinen Mandaten, dass nur in „äußerst dringenden Fällen“ ein Besuch erfolgen könne, im Hinblick auf das Recht auf einen Pflichtverteidiger als Konkretisierung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechtsstaatsprinzips nicht unbedenklich, zumal ersatzweise auch Telefonate hätten geführt werden könnten. Bei ausbleibenden Besuchen über einen derart langen Zeitraum von nunmehr fünf Monaten ist die Sorge des B auch trotz der Corona-Pandemie berechtigt, dass P der Aufgabe, sich für ihn und seine Belange einzusetzen, nicht mehr gerecht werde. Auch ein konkreter Beratungsbedarf, wie die StA verlange, sei hierfür nicht erforderlich, zumal ein solcher Vortrag mit Blick auf die Schweigepflicht des Verteidigers nicht unproblematisch ist.

Praxishinweis

Der Verteidigerwechsel ist seit Ende 2019 in § 143a StPO geregelt. Die Norm greift die bisherige Rechtsprechung mit den Aufhebungsgründen auf und versucht das staatliche Interesse an der Sicherung des Verfahrens mit dem Recht des Beschuldigten auf die Wahl seines Verteidigers in Einklang zu bringen. Gemäß § 143a Abs. 2 Nr. 3 StPO ist die Bestellung aufzuheben, wenn eine angemessene Verteidigung nicht mehr gewährt wird, weil etwa das Vertrauensverhältnis zwischen dem Verteidiger und Beschuldigten endgültig zerstört ist oder ein sonstiger Grund vorliegt. Nach der gängigen Rechtsprechung noch zu § 143 StPO liegt ein gestörtes Vertrauensverhältnis u.a. vor, wenn der Rechtsanwalt mit dem Beschuldigten in den ersten zwei Monaten des Ermittlungsverfahrens überhaupt keinen Kontakt aufnimmt (OLG Braunschweig, Beschl. v. 6.9.2012 - Ws 268/12).

Unter Geltung der neuen Rechtslage setzt das LG diese obergerichtliche Rechtsprechung fort. Beurteilungsmaßstab bleibt auch hier die Einschätzung eines verständigen Beschuldigten (BGH BeckRS 2020, 3078). Mit Recht kann ein solch verständiger Beschuldigter nach 5 Monaten ohne nennenswerten Kontakt zu seinem Verteidiger das Vertrauen in diesen verlieren. Die Justiz selbst ist nach sechs Monaten durch die Haftprüfung des OLG (§ 121 StPO) aus Verhältnismäßigkeitsgründen gezwungen, sich erneut mit dem Inhaftierten auseinanderzusetzen. Der Interessenvertreter des Inhaftierten sollte ein solches Bedürfnis bereits wesentlich früher und spätestens mit Erhalt der Ermittlungsakte verspüren. Nicht zuletzt sieht § 11 BORA vor, dass der Rechtsanwalt verpflichtet, das Mandat in angemessener Zeit zu bearbeiten und den Mandanten über alle für den Fortgang der Sache wesentlichen Vorgänge und Maßnahmen unverzüglich zu unterrichten.

LG München I, Beschluss vom 13.07.2020 - 12 Qs 9/20 (AG München), BeckRS 2020, 42766