Anmerkung von
Rechtsanwältin Dr. Ruth Anthea Kienzerle, Ignor & Partner GbR, Berlin
Aus beck-fachdienst Strafrecht 15/2023 vom 27.07.2023
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Sachverhalt
Mit Bußgeldbescheid vom 28.6.2022 setzte die Zentrale Bußgeldstelle beim Polizeipräsidium R. gegen den Betroffenen (B) eine Geldbuße von 180 EUR wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 29 km/h fest. Dagegen legte B am 8.7.2022 durch seinen Verteidiger (V) Einspruch ein. Nachdem V von der Bußgeldstelle angeforderte Unterlagen zur Geschwindigkeitsmessung nur teilweise erhalten hatte, beantragte er am 10.8.2022 gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG. Mit Beschluss vom 22.9.2022 gab das AG dem Antrag teilweise statt und wies die Bußgeldstelle an, V bestimmte Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Dem kam die Bußgeldbehörde nur teilweise nach; die Baumusterprüfbescheinigung des verwendeten Messgeräts und die verkehrsrechtlichen Anordnungen der maßgeblichen Geschwindigkeitsbeschränkung gab sie nicht heraus. Im Hinblick auf den Einspruch wurde die Akte über die StA dem AG zugeleitet. Dort wurde das Verfahren bis zum Eintritt der Verfolgungsverjährung nicht betrieben. Das AG stellte das Verfahren mit Beschluss vom 10.5.2022 ein und erlegte die Kosten des Verfahrens, nicht aber die notwendigen Auslagen des B, der Staatskasse auf. Dagegen wendet sich B mit seiner durch Schriftsatz des V am 16.5.2023 erhobenen sofortigen Beschwerde. Zur Begründung führt er aus, er wäre wegen der Ordnungswidrigkeit auch dann nicht sicher verurteilt worden, wenn nicht Verfolgungsverjährung eingetreten wäre, und dass jedenfalls im Rahmen des durch § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO eingeräumten Ermessens seine notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen gewesen seien.
Entscheidung
Die 1. Strafkammer hob den Beschluss des AG auf, soweit er die Auslagen des B betraf. Das AG habe die notwendigen Auslagen des B im erstinstanzlichen Verfahren zu Unrecht nicht der Staatskasse auferlegt.
Das Gericht könne zwar ausnahmsweise nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO davon absehen, die notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen, wenn ein Betroffener nur deshalb nicht verurteilt werde, weil ein Verfahrenshindernis bestehe. Bei Hinwegdenken des Verfahrenshindernisses müsse aber feststehen, dass es mit Sicherheit zu einer Verurteilung gekommen wäre. Die Ausnahmevorschrift sei eng auszulegen. Schuldspruchreife könne nur nach vollständiger Hauptverhandlung und dem letzten Wort des Betroffenen eintreten. Selbst wenn man der Gegenansicht folge, der zufolge von der Auslagenerstattung bereits dann abgesehen werden könne, wenn ein auf die bisherige Beweisaufnahme gestützter erheblicher Tatverdacht bestehe und keine Umstände erkennbar seien, die bei Fortführung der Hauptverhandlung die Verdichtung des Tatverdachts zur prozessordnungsgemäßen Feststellung der Tatschuld in Frage stellen würden, führe dies hier zu keiner anderen Beurteilung. Es bestünden nämlich durchgreifende Bedenken insoweit, dass die Verteidigung des B beeinträchtigt gewesen sei, als ihm die Bußgeldstelle entgegen der gerichtlichen Entscheidung die Unterlagen nicht zur Verfügung gestellt habe. Demnach sei die Verurteilung des B – auch wenn keine Verfolgungsverjährung eingetreten wäre – nicht derart sicher gewesen, dass von der Ausnahmevorschrift Gebrauch zu machen gewesen wäre, zumal die unterlassene Überlassung bestimmter Unterlagen an die Verteidigung auch bei der Ausübung des von der Vorschrift eingeräumten Ermessens zu würdigen sei.
Praxishinweis
Die Entscheidung überzeugt. Sie entspricht der herrschenden Auffassung in der Lit., jedoch nicht der inzwischen vorherrschenden obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rspr.
Grundsätzlich darf ein Gericht nur ausnahmsweise davon absehen, die notwendigen Auslagen im Fall der Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses der Staatskasse aufzuerlegen (st. Rspr., s. BGH NStZ 1995, 406). Dies kommt der vom LG Trier überzeugend vertretenen Auffassung zufolge grds. erst bei Schuldspruchreife in Betracht. Die in der obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung inzwischen vorherrschende a.A., demnach auch schon früher bei einem unterhalb der Schuldspruchreife liegenden „erheblichen“ bzw. hinreichenden Tatverdacht von der Auferlegung abgesehen können werden soll, insoweit keine Umstände erkennbar sind, die bei Fortführung der Hauptverhandlung die Verdichtung des Tatverdachts zur Feststellung der Tatschuld in Frage stellen (z.B. BGH NStZ 2000, 330 und KG BeckRS 2012, 12355) ist bei zutreffender Würdigung mit dem Gesetzeswortlaut nicht vereinbar (s. MüKo-StPO/Grommes, § 467 Rn. 22). § 267 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO will ein Absehen von der Auslagenauferlegung zulasten der Staatskasse nur dann ermöglichen, wenn feststeht, dass ein Angeschuldigter oder Betroffener ohne das Verfahrenshindernis verurteilt worden wäre. Eine solche Gewissheit kann aber erst bei Schuldspruchreife nach Hauptverhandlung und dem letzten Wort vorliegen.
LG Trier, Beschluss vom 30.05.2023 - 1 Qs 24/23 (AG Trier), BeckRS 2023, 15476