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Die Welt erlebt gerade kriegerische Zeiten. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im vergangenen Jahr werden wir nun Zeuge einer dramatischen Zuspitzung des Nahost­konflikts. Dieser Beitrag untersucht insbesondere, ob, und wenn ja in welchen rechtlichen Grenzen, Israel im Rahmen seines Selbstverteidigungsrechts gegen die Hamas im Gaza-Streifen vorgehen darf.

27. Okt 2023

Am 7.10.​2023 griff die militant-islamistische Gruppe Hamas Israel aus dem Gaza-Streifen heraus auf brutale Weise und in eklatantem Bruch des Völkerrechts an und tötete seitdem deutlich mehr als 1.000 israelische Zivilisten und Soldaten. Israel startete sodann eine ­Militäraktion gegen die Hamas auf israelischem Boden und im Gaza-Streifen, bei der mehrere tausend Palästinenser getötet wurden, darunter auch viele Zivilisten. Die Zivilbevölkerung im Gazastreifen ist zu großen ­Teilen von der Wasser-, Lebensmittel-, Treibstoff- und Energieversorgung abgeschnitten.

Der neu aufgeflammte Konflikt wirft viele völkerrechtliche Fragen auf, beispielsweise zur Verpflichtung von Anrainerstaaten gegenüber Flüchtenden oder zum Selbstbestimmungsrecht der im Gaza-Streifen lebenden Palästinenser. Ich beschränke mich hier aus Platzgründen auf zwei: das israelische Selbstverteidigungsrecht als Ausfluss des ius ad bellum und das dabei anwendbare Recht als Teil des ius in bello.

Das israelische Selbstverteidigungsrecht

Art. 51 der VN-Charta gesteht Staaten ein Selbstver­teidigungsrecht im Falle eines „bewaffneten Angriffs“ zu. Die Aggressionsdefinition der VN (GA Res. 3314 (XXIX)), die Art. 51 konkretisiert, nennt ausdrücklich den Angriff durch Truppen (Art. 3 lit. a) und die Beschießung oder Bombardierung fremden Gebiets (Art. 3 lit. b). Da die Kämpfe andauern, ist der Angriff auf Israel auch noch gegenwärtig. Das Selbstverteidigungsrecht endet auch nicht an der Grenze; es muss aber ein ausreichender räumlicher Zusammenhang zwischen Angriff und Verteidigung bestehen, um einem Missbrauch dieses Rechts vorzubeugen. Da die Attacken aus dem Gaza-Streifen ausgeführt wurden, ist auch dieser Zusammenhang gegeben.

Problematisch einerseits ist bei der rechtlichen Beurteilung der unklare rechtliche Status Palästinas. Sieht man Palästina als Staat an, was die meisten Staaten tun (s. zB GA Res. 67/19), dessen Staatsgebiet sich auch auf den Gaza-Streifen erstreckt, wäre grundsätzlich vor Ausübung des Selbstverteidigungsrechts gegen die ­Hamas die Einwilligung der Regierung Palästinas für den Angriff einzuholen. Eine solche Einwilligung wurde von Israel jedoch nicht eingeholt und wäre auch sicher nicht erteilt worden. Sie wäre allerdings entbehrlich, wenn man der palästinensischen Regierung den Willen oder die Fähigkeit abspräche, die gewaltbereite Hamas selbst zu bekämpfen (‚unwilling and unable‘-Doktrin). Jedenfalls ist nicht zuletzt seit den Terrorangriffen von Al-Qaida und dem Islamischen Staat von vielen Staaten anerkannt, dass auch ein ‚bewaffneter Angriff‘ durch nichtstaatliche Gewaltakteure das Selbstverteidigungsrecht auslösen kann, solange der Angriff von außerhalb der eigenen Staatsgrenzen ausgeht. Der ­Internationale Gerichtshof (IGH) hatte dies im Jahr 2004 in seinem sogenannten Mauer-Gutachten noch kritisch gesehen. Der Wortlaut von Art. 51 VN-Charta lässt eine solche Lesart aber zu, und die vergleich­baren Folgen eines „bewaffneten Angriffs“ durch staatliche Truppen oder nichtstaatliche Gewaltakteure sind ein gewichtiges Argument für diese Position.

Wenn man Palästina hingegen nicht als Staat anerkennt (so wie beispielsweise Israel, die USA und auch Deutschland) – oder wenn man den Gaza-Streifen nicht als Teil dieses Staatsterritoriums ansieht, weil die im Westjordanland befindliche Abbas-Regierung hier keinerlei effektive Kontrolle hat –, müsste sich Israels Selbstverteidigung schon gar nicht am zwischenstaatlichen Gewaltverbot des Art. 2 IV VN-Charta messen, dessen Verstoß Art. 51 VN-Charta zu rechtfertigen sucht. Anwendbar blieben aber jedenfalls die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht.

Andererseits problematisch ist die Frage einer mög­lichen Besetzung des Gaza-Streifens durch Israel. Der IGH hatte ebenfalls im Mauer-Gutachten angemerkt, dass Staaten sich nicht auf ihr Selbstverteidigungsrecht in einem Gebiet berufen können, wenn sie selbst Besatzungsmacht dieses Gebiets sind. Dies bezieht sich aber wohl auf eine Besatzung im engeren Sinne, also eine solche, in der sich das besetzte Gebiet nach Art. 42 Haager Landkriegsordnung (HLKO) „tatsächlich in der Gewalt des feindlichen Heeres“ befindet („boots on the ground“). Dies ist nach dem Rückzug israelischer Truppen aus dem Gaza-Streifen im Jahr 2005 im Rechtssinn nicht mehr gegeben. Zwar wird als „Besatzung“ in der Literatur auch zunehmend eine Kontrolle durch Blockaden als ausreichend angesehen, da hier jederzeit die Möglichkeit besteht, die Besatzung im engeren Sinne wieder aufzunehmen. Für diese Art der Besatzung hat der IGH die Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht nicht (ausdrücklich) ausgeschlossen.

Was oft intuitiv angenommen wird, erweist sich also als richtig, aber die Herleitung ist deutlich komplexer, als oft berichtet wird: Israel hat das Recht, sich gegen die Angriffe der Hamas zu verteidigen. Dieses Recht muss freilich in erforderlicher und verhältnismäßiger Art und Weise ausgeübt werden.

Anwendbares Recht

Die Menschenrechte verlieren zwar ihre Anwend­barkeit in Kriegszeiten nicht. Das speziell anwendbare humanitäre Völkerrecht, vor allem in Form der HLKO und der Genfer Konventionen nebst Zusatzprotokollen, wird aber maßgeblich zu deren Auslegung ­herangezogen und geht im Falle einer Kollision als lex specialis vor. Die Zusatzprotokolle zu den Genfer ­Konventionen hat Israel zwar nicht ratifiziert. Diese Regelungen gelten allerdings zu großen Teilen gewohnheitsrechtlich (Völkergewohnheitsrechtsstudie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, 2005) und sind daher weitestgehend auch für Israel verbindlich.

Ob sich der hiesige Konflikt als ein internationaler bewaffneter Konflikt oder ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt darstellt – eine Unterscheidung, die beeinflusst, welche Regeln des humanitären Völkerrechts genau Anwendung finden – hängt wiederum von Palästinas Staatlichkeit ab, und zudem von der Zurechenbarkeit der Handlungen der Hamas zu Palästina, die sicherlich nicht leicht zu konstruieren wäre. Für die Anwendbarkeit vieler zentraler Regeln und Prinzipien des humanitären Völkerrechts kommt es aber auf die Unterscheidung zwischen den Konfliktarten gar nicht an. Dies gilt auch für die Hamas, die als nichtstaatliche bewaffnete Gruppe mit hinreichender Befehls- und Organisationsstruktur auch an das humanitäre Völkerrecht gebunden ist. Die folgenden Regeln bzw. ihre Entsprechungen im Gewohnheitsrecht müssen daher von beiden Seiten – Hamas und Israel – zwingend eingehalten werden.

Im jetzigen Konflikt ist das Unterscheidungsgebot (Art. 52 ff. ZP I) von besonderer Bedeutung. Zivile Objekte und Zivilpersonen müssen verschont bleiben. Werden zivile Objekte auch militärisch („dual-use“) genutzt – beispielsweise Wohnhäuser, in denen Waffen lagern, wie von Israel wiederholt behauptet – so ­verlieren diese Objekte ihren Schutzstatus. Es gilt aber zunächst die Vermutung der rein zivilen Nutzung (Art. 53 III ZP I). Diese Vermutung zu widerlegen, ist Aufgabe der angreifenden Seite (Art. 52 III ZP I). Israel muss also aufzeigen, dass Wohn- oder Krankenhäuser von der Hamas für militärische Zwecke genutzt werden; anderenfalls bleiben Angriffe auf solche Objekte völkerrechtswidrig.

Israel und die Hamas müssen zudem alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen treffen, um zivile Opfer und Schäden zu vermeiden (Art. 57 II lit. a) ZP I), so etwa durch Einrichtung von Fluchtkorridoren und Zufluchtsorten. Israel muss die palästinensische Zivilbevölkerung vor Angriffen rechtzeitig warnen (Art. 57 II lit. b) ZP I). Unterschiedslose Angriffe (Art. 51 IV ZP I), also etwa Flächenbombardements von Gaza-Stadt, sind ebenfalls untersagt. 

Zivile Opfer sind im humanitären Völkerrecht zwar nicht gänzlich untersagt: Nicht jeder tote Zivilist ist automatisch eine Verletzung des humanitären Völkerrechts, auch wenn die Medien dies oft fälschlicherweise so berichten. Zivilpersonen und zivile Objekte dürfen aber nicht als solche und direkt angegriffen werden, und solche zivilen Opfer und Schäden dürfen außerdem niemals im Missverhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil des Angriffs stehen (Übermaßverbot, Art. 51 V lit. b) ZP I). Das Aushungernlassen der Zivilbevölkerung sowie das Abschneiden der lebensnotwendigen Wasser- und Stromversorgung verstoßen als besonders unmenschliche Kriegshandlung gegen Art. 54 ZP I. Schwieriger liegt es beim Abschneiden des Treibstoffs, da hier oft der militärische Nutzen für den Gegner besonders hoch ist.

Die Bindung an das humanitäre Völkerrecht gilt übrigens unabhängig von der Frage, ob sich die Gegenseite an das Gewaltverbot oder die Regeln des humanitären Völkerrechts gehalten hat. Es ist nicht die Reziprozität, die dem humanitären Völkerrecht seine normative Kraft verleiht, sondern das Prinzip der Menschlichkeit, das die Regeln imperativ für sämtliche Konfliktparteien macht.

Prof. Dr. Pierre Thielbörger M.PP. (Harvard) lehrt Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum und ist momentan Gastprofessor an der University of Sydney.