Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Thomas Winzer, Gleiss Lutz, Frankfurt a.M.
Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 47/2020 vom 26.11.2020
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Sachverhalt
Die Parteien streiten über Vergütung von Überstunden. Die Klägerin arbeitete bei der Beklagten als kaufmännische Angestellte in Vertrauensarbeitszeit und erfasste ihre geleistete Arbeitszeit mittels einer von der Beklagten zur Verfügung gestellten Software. Nach ihrer Eigenkündigung verlangt die Klägerin die Vergütung von ca. 1.000 Überstunden. Die Beklagte ist der Ansicht, die Überstunden seien nicht von ihr veranlasst worden, insbesondere nicht geduldet, und daher von ihr nicht zu vergüten.
Entscheidung
Das ArbG hat der Klage stattgegeben. Die Prüfung, ob Überstunden zu vergüten sind, sei in zwei Stufen vorzunehmen. Es gelte eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast. Auf der ersten Stufe muss der Arbeitnehmer darlegen, wann er in welchem Umfang gearbeitet oder sich zur Arbeit bereitgehalten hat. Auf der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob die Überstunden dem Arbeitgeber zurechenbar bzw. vom Arbeitgeber veranlasst sind. Dies setze eine Anordnung, Billigung, Duldung oder die Notwendigkeit zur Erledigung der geschuldeten Arbeit der Überstunden voraus.
Die Beklagte habe die Überstunden vorliegend geduldet, ihr Bestreiten der arbeitgeberseitigen Veranlassung sei nicht hinreichend. Die bisher vom BAG geforderte positive Kenntnis als Voraussetzung der Duldung sei infolge des Urteils des EuGH (FD-ArbR 2019, 417677) grds. nicht mehr erforderlich, wenn sich die Beklagte die Kenntnis der Arbeitszeiten durch Einsichtnahme in die Arbeitszeiterfassung, zu deren Überwachung/Kontrolle sie verpflichtet ist, verschaffen konnte. Letztlich genüge also die Möglichkeit zur Kenntnisnahme. Der Vortrag der Beklagten, sie habe aufgrund der Vertrauensarbeitszeit die Arbeitszeiterfassung nicht kontrolliert, genüge nicht, eine Duldung/Veranlassung zu widerlegen.
Eine Verpflichtung zu einer derartigen Erfassung der Arbeitszeit ergebe sich nach den Grundsätzen der zuvor zitierten Entscheidung des EuGH aus § 618 I BGB in europarechtskonformer Auslegung, hilfsweise als vertragliche Nebenpflicht aus § 241 II BGB.
Praxishinweis
Das vorliegende Urteil zeigt die Strahlkraft der CCOO-Entscheidung des EuGH, auch außerhalb des eigentlichen Kontexts, des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer. Das ArbG Emden versucht, das EuGH-Urteil auf die vergütungsrechtliche Ebene zu ziehen.
Die Entscheidung überzeugt nicht. Das Urteil des EuGH bedarf der Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber (Baeck/Deutsche/Winzer, ArbZG, § 16 Rn. 24). Über § 618 BGB kann keine über das ArbZG hinausgehende Dokumentationspflicht begründet werden, auch nicht über § 241 I BGB. Der deutsche Gesetzgeber ist aufgerufen, die Anforderungen des EuGH umzusetzen.
Eine Modifizierung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess rechtfertigt die EuGH-Entscheidung ebenfalls nicht. Arbeitszeiterfassungssysteme dokumentieren zunächst Anwesenheitszeiten. Ob es ein Indizwirkung auf den Umfang der Arbeitszeit gibt, mag man diskutieren. Daraus eine „Duldung“ etwaiger Überstunden auch ohne positive Kenntnis des Arbeitgebers ableiten zu wollen, geht zu weit. Die Entscheidung des ArbG verschiebt die Darlegungslast zu sehr zu Lasten des Arbeitgebers.
ArbG Emden, Urteil vom 24.09.2020 - 2 Ca 144/20, BeckRS 2020, 28054