Interview
Arbeitszeiten in Anwaltskanzleien
Interview
Foto_Interview_NJW_42_2022_Nathalie_Oberthuer_WEB
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Die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes ist für Kanzleien eine große Herausforderung, die sich durch eine aktuelle Entscheidung des BAG zur Arbeitszeiterfassung nochmals verschärft hat. Fachanwältin für Arbeitsrecht Dr. Nathalie Oberthür erläutert die Folgen des Urteils für die Anwaltschaft sowie für die Flexibilisierung der Arbeitszeit allgemein.

12. Okt 2022

NJW: Ist die Arbeitsweise bzw. das Geschäftsmodell von Anwaltskanzleien überhaupt mit dem geltenden Arbeitszeitrecht vereinbar?

Oberthür: Die arbeitszeitrechtlichen Vorgaben stellen Kanzleien vor ganz unterschiedliche Herausforderungen, je nach individueller Kanzlei- und Mandatsstruktur. Eine Kanzleistruktur, die für angestellte Anwälte eine regelmäßige Arbeitszeit von mehr als 48 Wochenarbeitsstunden vorsieht, lässt sich mit der bestehenden Rechtslage nicht mehr in Einklang bringen. Doch auch innerhalb dieses zeitlichen Rahmens stellen die Vorgaben zu den täglichen Höchstarbeits- und Mindestruhezeichen häufig unüberwindliche Hindernisse auf. Das Problem ist umso drängender, als die Rolle des unselbst­ständig angestellten Rechtsanwalts im Gegensatz zu früherer Anschauung mittlerweile eine anerkannte Form dauerhafter Berufsausübung geworden ist.

NJW: Kommt es dann nicht zwangsläufig zu Kollisionen mit dem Berufsrecht?

Oberthür: In jeder Kanzlei, ganz unabhängig von dem Zuschnitt der Mandatsstruktur, ergeben sich regelmäßig Situationen, in denen es die Wahrung der Mandanteninteressen gebietet, auch dann weiterzuarbeiten, wenn das Arbeitszeitgesetz dies an sich nicht erlaubt. So lassen sich Verhandlungen über einen Tarifvertrag oder einen Sozialplan oftmals nicht ohne Nachteile für den Mandanten nach acht Stunden abbrechen; auch bei eiligen Fristsachen, einstweiligen Verfügungsverfahren oder in Strafsachen ergeben sich immer wieder Arbeitsspitzen, die nicht planbar und daher auch bei größter Mühewaltung nicht vermeidbar sind. Rechtsanwälte werden dadurch regelmäßig in eine unauflösliche Konfliktsituation zwischen Berufsrecht und Arbeitszeitrecht gebracht.

NJW: Hat das aktuelle Urteil des BAG die Situation nochmals verschärft? Konkret: Wird damit zugleich das Ende der Vertrauensarbeitszeit und der „billable hours“ eingeläutet?

Oberthür: Die Beantwortung dieser Frage hängt letztlich von der Definition der Vertrauensarbeitszeit ab. Vertrauensarbeitszeit im eigentlichen Sinn beinhaltet lediglich die Berechtigung eines Arbeitnehmers, die geschuldete Arbeitszeit eigenverantwortlich und ohne Kontrolle vonseiten des Arbeitgebers festzulegen; diese eigenverantwortliche Festlegung der Arbeitszeit wird durch deren Aufzeichnung nicht eingeschränkt. Wird Vertrauensarbeitszeit jedoch dazu genutzt, durch die mangelnde Kontrolle unbezahlte Überstunden und Arbeitszeitverstöße zu verschleiern, dann wird in der Tat das Urteil spürbare Auswirkungen haben. Das wahre Problem ist ja nicht die Aufzeichnungspflicht, die mit einigem guten Willen durchaus umsetzbar ist und die der EuGH bereits mit dem CCOO-Urteil (NJW 2019, 1861) eingefordert hat. Problematisch für die Praxis ist vielmehr die Tatsache, dass durch die Aufzeichnung Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz visibler werden.

NJW: Bisher gab es offenbar nur wenige Kontrollen. Das hat sich zuletzt etwa in Hamburg geändert, wo die Gewerbeaufsicht von Kanzleien umfangreiche Arbeitszeitdokumentationen gefordert hat.

Oberthür: In der Tat scheint die Bereitschaft der Gewerbeaufsichtsämter, auch in Kanzleien vermehrt Kontrollen durchzuführen, zu steigen. Dies wird Auswirkungen auf die bislang übliche Praxis der Aufzeichnung allein der „billables“ haben müssen, da nach der Rechtsprechung des EuGH die insgesamt geleistete Arbeitszeit erfasst werden muss, nicht nur diejenige, die gegenüber dem Mandanten abgerechnet werden kann.

NJW: Kann man die Kontrollen der Gewerbeaufsicht mit dem Hinweis auf das Mandatsgeheimnis ablehnen?

Oberthür: Der Weitergabe von mandatsbezogenen Arbeitszeitaufzeichnungen an die Aufsichtsbehörden wird das Mandatsgeheimnis regelmäßig entgegen­stehen. Allerdings bleibt natürlich den Kanzleien die Möglichkeit, Arbeitszeiten auch mandatsunabhängig zu erfassen; gegebenenfalls müssen die Aufzeichnungen parallel geführt werden.

NJW: Müssen Kanzleien jetzt befürchten, dass angestellte Anwälte nachträglich Ausgleich für Überstunden geltend machen oder dass ausgeschiedene Anwälte die Kanzlei anzeigen?

Oberthür: Die nachträgliche Geltendmachung der Vergütung von Überstunden wird in Kanzleien auch zukünftig eher die Ausnahme sein. Zum einen ändert die Aufzeichnungspflicht nichts daran, dass der angestellte Anwalt im Hinblick auf den Umfang der Überstunden und deren Veranlassung durch die Kanzlei darlegungs- und beweisbelastet ist. Darüber hinaus fehlt es in den meisten Fällen an einer vertraglichen Grundlage für die Vergütung von Überstunden; auch eine anspruchsbegründende Vergütungserwartung im Sinne von § 612 I BGB, die einen Vergütungsanspruch begründen könnte, wird bei Diensten höherer Art, etwa der anwaltlichen Tätigkeit, oder bei einem Vergütungsniveau oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht anerkannt. Die nachträgliche Anzeige von Arbeitszeitverstößen durch ehemalige angestellte Rechtsanwälte, etwa weil sich deren Partnerschaftserwartung nicht erfüllt hat, wird jedoch ungeachtet der fehlenden Vergütungspflicht nicht ausgeschlossen werden können.

NJW: Für Wirtschaftsprüfer gibt es eine Ausnahmeregelung. Müsste es die auch für Anwälte geben?

Oberthür: Die Anwaltschaft ist Organ der Rechtspflege und hat als solche noch weitergehend als andere Berufsgruppen ein besonders berechtigtes Interesse daran, ihre Tätigkeit zur Wahrung der Mandanteninteressen ohne Kollision mit dem Arbeitszeitrecht ausüben zu können. Die Erwägungen, die den Gesetzgeber mit § 45 S. 2 WPO zu der Begründung einer Bereichsausnahme für Wirtschaftsprüfer bewogen haben, wären daher auch für die Anwaltschaft uneingeschränkt nutzbar zu machen. Eine einheitliche Bereichsausnahme für freie Berufe mit Tätigkeiten im besonderen öffentlichen Interesse könnte darüber hinaus ohne das von der Rechtsprechung aus verfassungsrechtlichen Gründen ent­wickelte Erfordernis der Prokuraerteilung auskommen. Allerdings darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass das Arbeitszeitrecht einen wesentlichen Bestandteil des Gesundheitsschutzes darstellt, der nicht nur die Fremd-, sondern auch die interessierte Selbstgefährdung verhindern soll. Sachgerecht erscheint mir deshalb – auch in Anlehnung an die Ausnahmevorschrift des Art. 17 I RL 2003/88/EG – eine Bereichsausnahme in § 18 I Nr. 1 ArbZG, die Rechts- und Syndikusanwälte von den Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes ausnimmt, wenn diese kraft einzelvertraglicher Vereinbarung zur eigenverantwortlichen Festlegung ihrer Arbeitszeit befugt sind. Weitergehende Schutzmechanismen könnten etwa durch das Erfordernis einer bestimmten Seniorität oder einer angemessenen wöchentlichen Höchstarbeitszeit eingezogen werden.

NJW: Was folgt aus der Entscheidung des BAG über Anwaltskanzleien hinaus für Homeoffice und andere Modelle zur Flexibilisierung der Arbeitszeit?

Oberthür: Moderne Arbeitszeitmodelle müssen den Arbeitnehmerschutz mit den beiderseitigen Interessen der Arbeitsvertragsparteien an flexibler Arbeit in Einklang bringen. Auch außerhalb der Anwaltschaft besteht ein großes Bedürfnis der Arbeitnehmer, die individuelle Arbeitszeit an die eigene Lebenssituation anpassen zu können; vor allem junge Eltern (nicht nur, aber noch immer überwiegend Frauen), die außerberufliche Betreuungsarbeit zu leisten haben, können innerhalb des strengen Korsetts des Arbeitszeitrechts nur schwer eine qualifizierte Vollzeittätigkeit ausüben.

NJW: Also ist auch dort der Gesetzgeber gefordert?

Oberthür: Der Gesetzgeber ist nun in vielerlei Hinsicht gefordert. Er hat die Aufzeichnungspflicht mit einem transparenten und verlässlichen Rahmen zu versehen, der übermäßige Bürokratisierung vermeidet und dennoch verlässliche Erfassungssysteme gewährleistet. Das Arbeitszeitgesetz benötigt zudem eine Modernisierung, die diesen Namen verdient; dies gebietet die sachgerechte Nutzung unionsrechtlich zulässiger Spielräume bei gleichzeitiger Schaffung eines ausreichenden und angemessenen Schutzniveaus für Arbeitnehmer. Möglicherweise wird dabei die Erkenntnis notwendig sein, dass auch im Arbeitszeitrecht das Prinzip des „one size fits all“ der Vielfalt eines modernen Arbeitsmarktes nicht mehr gerecht wird.

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht Dr. Nathalie Oberthür ist Gründungspartnerin der Kanzlei RPO Rechtsanwälte in Köln. Die Mitherausgeberin der NJW ist Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im Deutschen Anwaltverein und seit 2019 auch Vorsitzende des Ausschusses Arbeitsrecht im DAV.

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Interview: Monika Spiekermann / Tobias Freudenberg.