Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 15/2021 vom 30.07.2021
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Sachverhalt
Der Kläger wendet sich gegen die Verpflichtung zur Aufnahme einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung. Er begehrt Wertersatz für die in diesem Zusammenhang geleistete Arbeit.
Der im Jahr 1953 geborene Kläger war seit dem Jahr 2002 arbeitslos und bezog seit Januar 2005 Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II. Im August 2010 bot der Beklagte dem Kläger den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung an. Darin war u.a. die Unterstützung des Klägers durch das Angebot einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung vorgesehen. Der Kläger unterschrieb die Vereinbarung nicht. Der Beklagte erließ daraufhin am 01.10.2010 eine Eingliederungsvereinbarung durch Verwaltungsakt („Eingliederungsverwaltungsakt“), die für die Zeit vom 01.10.2010 bis 30.10.2011 geltend sollte und als Ziel die Aufnahme einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung gem. § 16d SGB II zur beruflichen Orientierung, fachpraktischen Qualifizierung und Heranführung an/Integration in den ersten Arbeitsmarkt vorsah. Das Angebot bezog sich auf eine Arbeitsgelegenheit als Küchen- und Kantinenhilfe im Zeitraum Oktober bis Dezember 2010 in einem Umfang von 30 Stunden wöchentlich. Der Kläger legte Widerspruch ein gegen diesen Bescheid und gegen den „Zuweisungsbescheid“ vom gleichen Tag. Er beantragte die Aussetzung der sofortigen Vollziehung der Zuweisung. Der Zwang, eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, verstoße gegen die Vertragsfreiheit. Die Verpflichtung zur Teilnahme an einer Arbeitsgelegenheit verletze ihn in seinem Grundrecht und widerspreche internationalen Übereinkommen gegen Zwangs- und Pflichtarbeiten. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück.
Der Kläger nahm im Zeitraum Oktober 2010 bis 19.12.2010 an der Beschäftigungsmaßnahme teil. Er wollte damit vermeiden, dass eine Sanktion gegen ihn verhängt werde. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Küchenhilfe bereitete er insbesondere Speisen zu, richtete diese an, gab Frühstück und Mittagessen aus und reinigte die Küche und den Kantinensaal. Im Mai 2010 fand eine Prüfung der Maßnahme statt mit dem Ergebnis, dass die Durchführung der Maßnahme den Anforderungen des § 16d SGB II entsprach.
Das SG weist die Klage ab. In der Zuweisung des Klägers zu der Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung bestehe kein Verstoß gegen die Nachrangigkeit von Maßnahmen nach § 16d SGB II gegenüber anderen Eingliederungsmaßnahmen. Ein Rechtsfehler bei der Auswahl der Maßnahme durch den Beklagten sei nicht erkennbar. Die vom Kläger verlangten und verrichteten Tätigkeiten lagen im öffentlichen Interesse. Es habe sich um „zusätzliche“ Arbeit i.S.d. § 16d Absatz 2 SGB II gehandelt. Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers.
Entscheidung
Auf die Berufung hebt das LSG das Urteil des SG auf und stellt fest, dass der angefochtene Eingliederungsverwaltungsakt rechtswidrig war und verurteilt die Beklagte, an den Kläger 990,36 EUR zu zahlen.
Der Eingliederungsverwaltungsakt war rechtswidrig, weil er eine Geltungsdauer von 13 Monaten hatte. Nach § 15 Abs. 1 SGB II a.F. soll die Eingliederungsvereinbarung für sechs Monate geschlossen werden. Eine längere Geltungsdauer setzt eine spezielle Ermessensausübung voraus, die hier nicht geschehen ist. Der Verwaltungsakt ist rechtswidrig, da die gesetzlich vorgesehene Geltungsdauer von sechs Monaten ohne Ermessenserwägungen überschritten worden ist.
Die vom Kläger ausgeübten Tätigkeiten waren keine Beschäftigungen bei dem beigeladenen Maßnahmeträger. Diesem gegenüber bestehen keine Ansprüche auf Arbeitsentgelt. Der Kläger hat aber einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch gegen die Beklagte, da sie durch die Leistung des Klägers etwas erlangt hat, ohne dass ein Rechtsgrund dafür vorlag. Die Ausübung der Tätigkeit im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit hat zwar in erster Linie die Funktion, dass sie erwerbsfähige Hilfebedürftige wieder an eine regelmäßige Arbeitstätigkeit gewöhnen. Jedoch geht es bei der Arbeitsgelegenheit um eine „wertschöpfende fremdnützige Tätigkeit“, auch wenn diese nicht auf privatrechtlichem Arbeitsvertrag gegründet ist. Der Beklagte war dadurch bereichert. Die Bereicherung liegt darin, dass der Kläger durch seine Tätigkeit im Produktions- und Verkaufsbereich der Kantine dazu beigetragen hat, dass die eingekauften Nahrungsmittel als zubereitete Getränke und Speisen zu einem höheren Preis verkauft werden konnten und so eine Wertschöpfung stattgefunden hat. Der Beklagte hat durch die 20 Arbeitsstunden wöchentlich, die der Kläger als Küchen- und Kantinenhilfe gearbeitet hat, einen Vermögensvorteil erlangt, der ihm wegen der Rechtswidrigkeit des Eingliederungsverwaltungsaktes nicht zustand. Der Erstattungsanspruch errechnet sich auf Basis eines Mindestlohns von 9,76 EUR für 180 Stunden zzgl. einer Sonderzahlung und Abgeltung für Urlaubsansprüche. Von diesem Gesamtbetrag von 2.064 EUR sind die tatsächlich gezahlten Mehraufwandsentschädigungen sowie Beiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung abzuziehen, so dass sich der Anspruch des Klägers auf 990,36 EUR beläuft. Ein Anspruch auf Verzinsung besteht nicht, da es dazu an einer gesetzlichen Regelung fehlt.
Praxishinweis
1. Das Urteil orientiert sich, was die Rechtswidrigkeit des Eingliederungsverwaltungsaktes anlangt, am Urteil des BSG vom 21.03.2019 (BeckRS 2019, 14304). Dennoch überzeugt die Argumentation nicht: Die Befristung des Verwaltungsaktes ist eine Nebenbestimmung i.S.d. § 32 SGB X, die gesondert angefochten werden kann. Die hier streitgegenständlichen Tätigkeiten wurden ausgeübt innerhalb der ersten sechs Monate des Eingliederungsverwaltungsaktes. Für die Dauer von sechs Monaten war der Eingliederungsverwaltungsakt rechtmäßig. Die vom Gericht vermisste Ermessensausübung betrifft den Zeitraum danach. Wenn aber die Befristung gesondert anfechtbar ist, dann muss dies auch umgekehrt gelten: Die zu lange Befristung bewirkt nicht die Rechtswidrigkeit des Bescheides insgesamt, sondern nur insoweit, als die gesetzliche Frist rechtswidrig überschritten wurde.
2. Das LSG legt der Tätigkeit einen Stundensatz von 9,76 EUR zugrunde. Dies entsprach nicht dem „Mindestlohn“ im Jahr 2010, sondern orientiert sich an einem Tarifvertrag. Wenn aber die Tätigkeit während der Arbeitsgelegenheit keine Beschäftigung darstellt, muss man sich fragen, wie ein solcher Tarifvertrag auf diese Tätigkeit angewandt werden kann. Dass das mit dieser Sache befasste Jobcenter durch die Tätigkeit des Klägers eigentlich keinen „Vermögensvorteil“ erlangt hat, liegt auf der Hand.
3. Der Kläger, geboren 1953, bezieht nun Altersruhegeld. Sollte er daneben Ansprüche auf Grundsicherung gem. §§ 41 ff. SGB XII haben, stellt sich die Frage, ob der nun nachgezahlte Betrag als Einkommen zu berücksichtigen ist. Dies ist nach § 82 Abs. 3 SGB XII zumindest denkbar.
LSG Hamburg, Urteil vom 29.04.2021 - L 4 AS 177/17, BeckRS 2021, 19993