NJW: Können Sie uns zunächst Inter- und Supervision kurz erklären?
Born: Es handelt sich um Arbeitsformen der systematischen Reflexion von beruflichen Alltagsproblemen. Supervision ist eine professionelle, meist entgeltliche Dienstleistung, die Intervision ist eine in Eigenregie organisierte und strukturierte kollegiale Beratung. Gegenstand sind Fragen, Probleme und Konflikte aus dem beruflichen Alltag. Diese werden aus verschiedenen Blickwinkeln und in mehreren Dimensionen analysiert und erörtert, was ein vertieftes Verstehen der beruflichen Realität ermöglicht.
NJW: Warum erreicht das Thema die Anwaltschaft erst jetzt?
Born: Im Vordergrund der Anwaltstätigkeit stehen typischerweise der „konkrete juristische Fall“, seine juristische Komplexität und das weitere strategische oder prozesstaktische Vorgehen. In Kanzleien findet daher primär ein fachlicher Austausch unter Berufskollegen statt. Intervisionen und Supervisionen haben Situationen, Probleme und Geschehnisse im Blick, die für einen Anwalt besonders und ungewöhnlich sind und die vom Alltag abweichen, etwa schwierige Mandanten, unangenehme Kollegen, problematische Richter und persönliche wie fachliche Überforderungen. Zu verstehen, warum sich eine Situation so ergeben hat, welche Anliegen und Bedürfnisse dem wahrgenommenen Verhalten eines anderen zugrunde liegen und wie das eigene Verhalten von anderen wahrgenommen werden könnte, sind für den beruflichen Anwaltsalltag eher ungewöhnliche Fragestellungen.
NJW: Dabei sind Anwältinnen und Anwälte doch ständig mit solchen Situationen konfrontiert.
Born: In der Tat. Der berufliche Alltag des Rechtsanwalts besteht zum überwiegenden Teil aus einer Aneinanderreihung und Verkettung von Kommunikationssequenzen: Telefonate, Videokonferenzen, persönliche Gespräche, Korrespondenz etc. Die Anlässe sind ebenso vielfältig wie die Gegenüber: Man trifft in Mandanten- und Akquisitionsgesprächen, Vertrags- und Gerichtsverhandlungen, Gesellschafterversammlungen oder Betriebsratssitzungen unter anderem auf Kollegen, Assistenten, Mandanten, Richter, Beamte und gegnerische Parteien. Dies zeigt, dass es für den Anwalt – neben der juristischen Vorbereitung – hilfreich sein kann, im Vorfeld zu überlegen, mit welchen Gesprächssituationen und Gesprächspartnern er zu rechnen hat, und im Nachhinein zu reflektieren, warum ein Gespräch in seinem Verlauf eine bestimmte Richtung eingeschlagen und zu einem bestimmten Ergebnis geführt hat.
NJW: Gibt es weitere Entwicklungen, die für Intervision und Supervision in Kanzleien sprechen?
Born: Der Berufsstand befindet sich nach wie vor in einem Transformationsprozess. Die Komplexität der Rechtsberatung nimmt zu, gleichzeitig steigen die Anforderungen der Mandanten. Es besteht ein permanenter hoher Erwartungs- und Effizienzdruck. Die Frage nach einer ausreichenden Qualitätssicherung der anwaltlichen Dienstleistung ist dabei von außerordentlicher Bedeutung. Schließlich erwartet gerade der juristische Nachwuchs zurecht Wertschätzung, eine individuelle Entwicklung sowie eine sinnhafte Tätigkeit. Dies kann mit Inter- und Supervisionen sehr gut unterstützt werden.
NJW: Die Arbeitsbelastung und der Zeitdruck in Kanzleien sind meist hoch, die Räume für berufliche Reflexion daher eng abgesteckt.
Born: Die Diskussion über Sinnhaftigkeit und realistische Umsetzung von Supervisionen oder Intervisionen in Anwaltssozietäten wird oft bereits zu Beginn mit der angeblichen „Unvereinbarkeit mit dem beruflichen Alltag“ im Keim erstickt. Die Aussage „Dafür fehlt uns die Zeit!“ ist das häufigste Argument gegen die Supervision in Kanzleien. Dies ist aber nur ein Scheinargument. Die Zeit, die sich die Anwaltssozietät und der einzelne Berufsträger dafür nehmen, ist die Voraussetzung dafür, dass mit den Veränderungsprozessen überhaupt Schritt gehalten werden kann.
NJW: Was bietet sich für Kanzleien eher an – Intervision oder Supervision?
Born: Das lässt sich pauschal nicht beantworten. Bestenfalls gibt es beides. Die kollegiale Beratung in der Kanzlei hat für die Teilnehmer gegenüber der Supervision einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert: Respekt und Wertschätzung. Die Supervision stärkt hingegen aus meiner Sicht besser die Professionalität des Anwalts, insbesondere bei der Spielart der mediationsanalogen Supervision. Die Supervision übernimmt hier die Prozessstruktur der Mediation, die vielen Juristen vertraut ist. Ein Supervisor leitet die Sitzung, ordnet die Fälle, bestimmt die Methoden, übernimmt das Zeitmanagement und sorgt für die Einhaltung vorab bestimmter Leitsätze.
NJW: Welche sind das?
Born: Der Lösungsweg muss vom fallvorstellenden Anwalt (Supervisand) selbst gefunden werden, weil niemand sonst dazu legitimiert wäre. Es wird also in der Supervision nichts „beigebracht“, „besser gewusst“ oder „aufgedrängt“, sondern die Entscheidung über das weitere Vorgehen wird beim Supervisand belassen. Es wird nicht die Vergangenheit des Falles aufgearbeitet, sondern eine Lösung für die Zukunft entwickelt. Anstatt sich in Detailschwierigkeiten zu verlieren, geht es darum, etwas zu verändern, eine neue Sichtweise, eine neue Richtung zu verfolgen. Dabei werden zahlreiche Hypothesen, Optionen, Lösungen entwickelt, so dass jederzeit ausgewählt werden kann – die Lösungssuche in der Supervision läuft analog dem Verfahren einer Mediation ab. Im Grundsatz geht es darum, eine sachliche Ebene herzustellen, die Interessen der Partei hinter den festgefahrenen Positionen zu beleuchten, neue Ideen zu entwickeln, die passenden Ideen auszuwählen und sich dann für das weitere Vorgehen festzulegen.
NJW: Gibt es ansonsten Leitlinien für den Ablauf einer solchen Supervision?
Born: Die Supervisionsgruppen sollten aus fünf bis acht Teilnehmern bestehen und sich mindestens vier Mal im Jahr treffen. Dafür sollten sie sich jeweils einen Nachmittag reservieren. Eine diverse Gruppenzusammensetzung mit Blick auf Tätigkeitsschwerpunkte, Gender, Lebensalter und Berufserfahrung ist hilfreich. Kolleginnen und Kollegen, die in dem Fall des Supervisanden eine Rolle spielen, können nicht teilnehmen. In der ersten Sitzung sind die Grundsätze der Zusammenarbeit zu vereinbaren. Dieses Arbeitsbündnis ist mit allen Teilnehmern der Supervisionsgruppe zu schließen, und es sollte zumindest strikte Verschwiegenheit vereinbart werden. Die Festlegung von Gesprächsregeln ist hilfreich.
NJW: Sollte der Supervisor eine externe Person sein?
Born: Das ist nicht zwingend, in der Praxis aber doch die Regel, weil Anwälte mit Supervisions-Erfahrung eher selten sind. Dann bleibt nur der Weg, zunächst einen externen Supervisor zu beauftragen. Das kann auch nur für eine Übergangsphase erfolgen, bis sich Anwälte aus der Kanzlei zum Supervisor haben ausbilden lassen. Es ist aus meiner Sicht nicht zwingend, aber von Vorteil, wenn der externe Supervisor ebenfalls Anwalt ist. Dies fördert erfahrungsgemäß die Akzeptanz und hat Vorteile im Hinblick auf die Wahrung des anwaltlichen Berufsgeheimnisses.
NJW: Fassen Sie doch zum Schluss nochmals kurz zusammen, was Intervision und Supervision den Anwälten und Kanzleien konkret bringen.
Born: Es sind für Sozietäten hocheffiziente Werkzeuge, um die individuelle Kompetenz des Anwalts in Bezug auf seine Kommunikationsfähigkeit in unterschiedlichen schwierigen beruflichen Situationen zu steigern. Sie bedeuten eine Bereicherung, da zu unterschiedlichen Themen im anwaltlichen Kontext neue Erkenntnisse gewonnen werden. Sie führen zu einer Entlastung für den Einzelnen, da ein gemeinsamer Blick auf den Fall eine kollegiale Verbundenheit schafft und die Fälle an Schwere und Kompliziertheit verlieren. Wer also Intervision und Supervision ernsthaft als Instrumente der Qualitätsverbesserung berücksichtigt, steigert erheblich die Professionalität der Anwälte und der Kanzlei.