Urteilsanalyse
Anwalt muss auch bei Videoverhandlung Wartezeit einkalkulieren
Urteilsanalyse
urteil_lupe
© Stefan Yang / stock.adobe.com
urteil_lupe

Ist die Zeitplanung eines Rechtsanwalts zu knapp und verlässt er deshalb den Terminsort vor Aufruf der Sache, ist sein Ausbleiben in dem Termin nicht unverschuldet. Für den Rechtsanwalt, dem nach § 128a ZPO gestattet ist, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen, gelten nach einem Beschluss des OLG Hamburg keine anderen Maßstäbe.

14. Jul 2022

Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Hans-Jochem Mayer, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bühl

Aus beck-fachdienst Vergütungs- und Berufsrecht 14/2022 vom 14.07.2022

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Vergütungs- und Berufsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Vergütungs- und Berufsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Vergütungs- und Berufsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de

Sachverhalt

In einem einstweiligen Verfügungsverfahren hatte das LG einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf 12:30 Uhr terminiert und die Teilnahme an der Verhandlung per Videokonferenz (§ 128a ZPO) gestattet. Der Anwalt des Antragstellers war zur anberaumten Zeit in seinem Büro bereit zur Videoverhandlung, die Anwältin des Antragsgegners wartete vor dem Sitzungssaal. Da vorangehende Verhandlungen länger als geplant dauerten, informierte eine Richterin beide um 12:30 Uhr, dass sich der Aufruf der Sache um bis zu eine Stunde, vielleicht auch länger, verschieben könne.

Um 12:55 Uhr teilte der Anwalt des Antragstellers dem Gericht und der Anwältin der Antragsgegnerin per E-Mail, dem Gericht auch mittels beA, mit, dass aufgrund der Information «von einer Terminsaufhebung auszugehen» sei. Da er «zudem ab 14:00 Uhr einen unaufschiebbaren Termin» habe, könne «der Termin zu einer späteren Terminstunde heute nicht mehr wahrgenommen werden». Er rege daher an, den Termin «gegebenenfalls auf nächste Woche Freitag zu legen». Das LG rief den Termin um 13:25 Uhr auf. Bei Aufruf der Sache erschien nur die Anwältin der Antragsgegnerin. Nachdem auch bis 14:00 Uhr für die Antragstellerseite niemand erschienen war, beantragte die Anwältin den Erlass eines Versäumnisurteils. Das LG vertagte den Termin nach § 337 ZPO. Dagegen legte die Antragsgegnerin sofortige Beschwerde ein.

Entscheidung: Anwalt muss Wartezeit auch von über einer Stunde grundsätzlich hinnehmen

Die Beschwerde hatte Erfolg.

Die Voraussetzungen des § 337 Satz 1 ZPO lägen nicht vor. Danach vertage das Gericht die Verhandlung über den Antrag auf Erlass des Versäumnisurteils, wenn es dafür halte, dass die ausgebliebene Partei ohne ihr Verschulden am Erscheinen verhindert ist. Der Anwalt des Antragstellers habe aber aufgrund der bloßen Information über eine Verschiebung des Terminbeginns nicht davon ausgehen dürfen, der Termin sei aufgehoben worden. Der Anwalt habe auch nicht darauf vertrauen dürfen, dass seinem Antrag auf eine Terminsverlegung stattgegeben wird. Schon die von ihm gegebene Begründung, er habe «ab 14:00 Uhr einen unverschiebbaren weiteren Termin», sei dafür ungenügend gewesen. Denn Art und Ort des weiteren Termins seien nicht näher angegeben worden, sodass das Gericht sich kein Bild von dessen behaupteter Unaufschiebbarkeit hätte machen können.

Selbst wenn der Anwalt aus gewichtigen, ihm bereits vor dem Termin bekannten Gründen daran gehindert gewesen wäre, über eine Stunde auf den Aufruf der Sache zu warten, hätte dies keinen Umstand gebildet, der ihn ohne sein Verschulden am Erscheinen verhindert hätte, so das OLG weiter. Ein anberaumter Termin beginne nicht automatisch zu der in der Ladung angegebenen Uhrzeit, sondern nach § 220 Abs. 1 ZPO erst mit dem Aufruf zur Sache. Dass sich dieser Aufruf der Sache verzögern könne, liege auf der Hand, da sich die genaue Dauer von Terminen zur mündlichen Verhandlung bei deren Anberaumung nicht sicher voraussehen lässt. Aus diesem Grunde müsse ein zu einer bestimmten Uhrzeit geladener Rechtsanwalt damit rechnen, einige Zeit auf den Beginn der Verhandlung warten zu müssen. Dabei sei eine Wartezeit auch von über einer Stunde grundsätzlich hinzunehmen. Dies könne im Einzelfall ärgerlich sein, sei aber im Grundsatz nicht problematisch, weil der Rechtsanwalt bei seiner Zeitplanung ja ohnehin einkalkulieren müsse, dass auch der Termin selbst eine gewisse, im Voraus nicht sicher absehbare Zeit in Anspruch nehmen wird. Dies gelte auch und insbesondere dann, wenn – wie hier – in der mündlichen Verhandlung über den Erlass oder den Fortbestand einer einstweilen Verfügung verhandelt wird.

Umstände, die es gebieten könnten, hinsichtlich Parteien oder Prozessbevollmächtigten, denen nach § 128 ZPO die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz gestattet sei, andere Maßstäbe anzulegen, seien jedenfalls hier nicht gegeben.

Praxishinweis

Dass der Anwalt bei einem Termin zur mündlichen Verhandlung über den Erlass oder den Fortbestand einer einstweiligen Verfügung ausreichend Zeit einplanen muss, ist evident. Ist ein Terminsverlegungsantrag gestellt worden, darf im Allgemeinen nicht darauf vertraut werden, dass dem Antrag schon entsprochen wird oder dass wegen der im Antrag mitgeteilten Hinderungsgründe ein Versäumnisurteil nicht ergehen wird (Toussaint in BeckOK ZPO, 44. Edition, § 337 Rn. 9). Zutreffend hat das OLG Hamburg diese Maßstäbe auch auf eine Videoverhandlung übertragen, wenngleich die Versuchung für den Rechtsanwalt, dort die Termine enger zu takten, besonders groß sein dürfte.


OLG Hamburg, Beschluss vom 20.05.2022 - 7 W 57/22 (LG Hamburg), BeckRS 2022, 14509