Urteilsanalyse

An­spruch auf Kran­ken­geld wegen «neuer» Er­kran­kung
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Gemäß § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V bleibt die Mit­glied­schaft mit An­spruch auf Kran­ken­geld er­hal­ten, wenn sich an eine ab­schnitts­wei­se er­folg­te Be­wil­li­gung von Kran­ken­geld auf der Grund­la­ge be­fris­te­ter AU-Fest­stel­lun­gen ein wei­te­rer Kran­ken­geld­an­spruch un­mit­tel­bar an­schlie­ßt. Dies ist nach An­sicht des LSG Bay­ern auch dann der Fall, wenn die neue AU auf einer an­de­ren Er­kran­kung und ggfs. einem Kran­ken­haus­auf­ent­halt be­ruht.

11. Okt 2021

An­mer­kung von

Rechts­an­walt Prof. Dr. Her­mann Pla­ge­mann, Pla­ge­mann Rechts­an­wäl­te Part­ner­schaft mbB, Frank­furt am Main

Aus beck-fach­dienst So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht 20/2021 vom 08.10.2021

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des zwei­wö­chent­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht be­inhal­tet er er­gän­zen­de Leit­satz­über­sich­ten und einen Über­blick über die re­le­van­ten neu er­schie­ne­nen Auf­sät­ze. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis des So­zi­al­ver­si­che­rungs­rechts. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de


Sach­ver­halt

Strei­tig ist der An­spruch der Klä­ge­rin auf Kran­ken­geld über den 12.02.2018 hin­aus, und zwar bis zum 05.04.2018. Die Klä­ge­rin, 1956 ge­bo­ren, stand vom 01.04.2014 bis 31.01.2018 in einem Be­schäf­ti­gungs­ver­hält­nis, aus dem sie ar­beits­un­fä­hig aus­schied. Der sich dar­aus er­ge­ben­de An­spruch auf Kran­ken­geld ist bis zum 12.02.2018 un­strei­tig. Am 13.02.2018 wurde die Klä­ge­rin wegen einer neuen Er­kran­kung (Gonar­thro­se) in einem Kran­ken­haus auf­ge­nom­men. Die Kasse macht gel­tend, dass zum Zeit­punkt der Auf­nah­me (vor­mit­tags, 09:05 Uhr) die Mit­glied­schaft mit An­spruch auf Kran­ken­geld nicht mehr be­stan­den habe, da wegen des vor­an­ge­gan­ge­nen Kran­ken­geld­be­zu­ges die Mit­glied­schaft nach § 192 SGB V um Mit­ter­nacht ge­en­det habe. Da­ge­gen erhob die Klä­ge­rin Wi­der­spruch und so­dann Klage. Das SG weist die Klage mit an­ge­foch­te­nem Ur­teil ab. Die Mit­glied­schaft der Klä­ge­rin habe nicht über den 12.02.2018 hin­aus fort­be­stan­den, weil die vom 13.02.2018 er­folg­te sta­tio­nä­re Auf­nah­me der Klä­ge­rin kei­nen neuen Kran­ken­geld­an­spruch be­grün­den konn­te. Beim Fort­be­stehen der AU wegen der glei­chen Er­kran­kung reicht es, wenn die Fol­ge­be­schei­ni­gung im nächs­ten Ar­beits­tag er­stellt wird. Eine Erst­be­schei­ni­gung mit der Ar­beits­un­fä­hig­keit wegen einer an­de­ren Er­kran­kung reicht dazu nicht aus. Da­ge­gen rich­tet sich die Be­ru­fung der Klä­ge­rin.

Ent­schei­dung

Das LSG gibt der Be­ru­fung in vol­lem Um­fang statt. Gem. § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V bleibt die Mit­glied­schaft Ver­si­che­rungs­pflich­ti­ger er­hal­ten, so­lan­ge ein An­spruch auf Kran­ken­geld be­steht. Dem bis zum 12.02.2018 be­stehen­den An­spruch auf Kran­ken­geld schlie­ßt sich hier ein wei­te­rer An­spruch naht­los an. Der Tag des Be­ginns der Auf­nah­me in das Kran­ken­haus ist ab dem Ta­ges­be­ginn um 00:00 Uhr an­zu­neh­men – auch dann, wenn die Pa­ti­en­tin tat­säch­lich erst am Vor­mit­tag des glei­chen Tages in der Kli­nik auf­ge­nom­men wurde. Die Auf­recht­erhal­tung der Be­schäf­tig­ten­ver­si­che­rung nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII setzt keine Über­schnei­dung von Be­schäf­ti­gungs­ver­hält­nis und Ent­ste­hung des An­spruchs auf die So­zi­al­leis­tung vor­aus, son­dern le­dig­lich eine Naht­lo­sig­keit von Be­schäf­ti­gung und Ent­ste­hung des Rechts auf die So­zi­al­leis­tung.

§ 46 Satz 2 SGB V ist vor­lie­gend nicht ein­schlä­gig. Zweck die­ser Re­ge­lung ist die Si­cher­stel­lung des naht­lo­sen Leis­tungs­be­zugs und der Er­halt der Mit­glied­schaft auf­grund des Kran­ken­geld­be­zu­ges bei Fol­ge­be­schei­ni­gun­gen.

Pra­xis­hin­weis

1. Das LSG hat die Re­vi­si­on wegen grund­sätz­li­cher Be­deu­tung zu­ge­las­sen. Wer ar­beits­un­fä­hig aus dem Be­schäf­ti­gungs­ver­hält­nis aus­schei­det, hat An­spruch auf Kran­ken­geld, und zwar so­lan­ge die Ar­beits­un­fä­hig­keit fort­dau­ert – un­ab­hän­gig davon, ob dafür die glei­che Er­kran­kung wie zum Ende der Be­schäf­ti­gung ma­ß­geb­lich ist. Vor die­sem Hin­ter­grund ist dem Ur­teil des LSG Bay­ern zu­zu­stim­men. Es kann nicht zu Las­ten der ar­beits­un­fä­hi­gen Klä­ge­rin gehen, dass sie wäh­rend des Tages in der Kli­nik auf­ge­nom­men wird und nicht nachts um 00:00 Uhr ein­ge­lie­fert wird, ob­wohl der Grund für die Ar­beits­un­fä­hig­keit un­strei­tig ist.

2. Ganz grund­sätz­lich kann man sich na­tür­lich fra­gen, ob es auch im Lich­te eines ge­glie­der­ten So­zi­al­ver­si­che­rungs­sys­tems Sinn macht, den An­spruch auf Kran­ken­geld auch auf die Zeit nach Ab­schluss einer Be­schäf­ti­gung zu er­stre­cken, ob­wohl in die­sem Zeit­raum – un­strei­tig – krank­heits­be­dingt ein Lohn­aus­fall nicht in Rede steht, son­dern der Kran­ken­geld­be­zug den An­spruch auf Ar­beits­lo­sen­geld ver­drängt. Auch unter die­sem Ge­sichts­punkt hat aber der Schutz des Ver­si­cher­ten Vor­rang, so dass auch in Zei­ten „lee­rer Kas­sen“ die Auf­recht­erhal­tung des bei­trags­lo­sen Ver­si­che­rungs­ver­hält­nis­ses gem. § 192 SGB V sach­ge­recht und ge­bo­ten ist.

LSG Bay­ern, Ur­teil vom 12.05.2021 - L 4 KR 293/20, BeckRS 2021, 25961