Urteilsanalyse
Anspruch auf barrierefreies Verwaltungsverfahren
Urteilsanalyse
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Blinde und sehbehinderte Menschen haben - so das SG Hamburg - gegenüber dem Jobcenter Anspruch auf elektronische Übersendung der maßgeblichen Dokumente, d.h. Anträge, Hinweisblätter, Verwaltungsakte und Widerspruchsbescheide, und zwar nach entsprechender Einwilligung des Betroffenen auch durch unverschlüsselte E-Mail.

5. Sep 2023

Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 17/2023 vom 01.09.2023

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Sachverhalt

Der Kläger, geboren 1959, bezieht seit über 10 Jahren Leistungen nach dem SGB II. Anerkannt ist ein GdB von 100 sowie das Merkzeichen Bl. Wegen der Blindheit ist er berechtigt, eine Begleitperson bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel mitzunehmen. 2019 bat der Kläger mit einer E-Mail an den Geschäftsführer des Jobcenters um barrierefreie Kommunikation. Dieser bestätigte den Anspruch dem Grunde nach, führte aber aus, dass ein verschlüsselter Versand von Emailnachrichten an Kundinnen und Kunden des Jobcenter technisch nur dann möglich sei, wenn die Empfängerseite über ein entsprechendes Programm verfüge. Der Kläger macht geltend, dass er ein solches Programm nicht habe und auch nicht bedienen könne, so dass er um Zusendung per E-Mail ohne Verschlüsselung bitte. Dies lehnte die Beklagte ab. Dagegen richtet sich die Klage des Klägers.

Entscheidung

Das SG gibt der Klage statt und verurteilt das Jobcenter, dem Kläger alle ihm ab dem 11.12.2019 gegenüber erlassenen Bescheide sowie alle das beidseitige Sozialrechtsverhältnis betreffenden Formulare zugleich mit der Versendung per Post auch in barrierefreier Form, das heißt als PDF-Dokument durch unverschlüsselte Email zur Verfügung zu stellen.

Der Kläger verfügt über eine spezielle Vorlesesoftware, die es ihm ermöglich, Schriftstücke, die ihm per E-Mail übersandt wurden, zur Kenntnis zu nehmen. Dass die Beklagte eine gemeinsame Einrichtung i.S.d. §§ 6d, 44b Abs. 1 SGB II ist und deshalb sowohl Bundesrecht als auch Landesrecht Anwendung finden kann, hindert an dem Anspruch nichts. Ob nun das Bundesrecht (BGG) oder das Hamburger BGG Anwendung findet, kann dahingestellt bleiben, da sich aus beiden Gesetzen der Anspruch ergibt. Der Kläger hat ausdrücklich eingewilligt in die Übermittlung per E-Mail und damit das Risiko akzeptiert, dass die Vertraulichkeit nicht zu 100% gewahrt wird. Der Anspruch auf barrierefreien Zugang kann also nicht mit Bezug auf den Datenschutz relativiert oder verneint werden.

Praxishinweis

1. Die Entscheidung überzeugt auch im Lichte des Art. 3 Abs. 3 GG. Sie wirft die „Folge-Frage“ auf, ob nun - wegen der Barrierefreiheit – der hiesige Kläger auch befugt ist, Widersprüche oder Anträge durch unverschlüsselte E-Mail an das Amt zu schicken.

2. Beim Kläger hatte das Versorgungsamt einen GdB von 100 anerkannt und den Nachteilsausgleich Bl. Die Blindheit als „Auslöser“ für den Anspruch auf barrierefreien Zugang stand offensichtlich fest. Wie verhält es sich in Fällen, in denen eine Anerkennung seitens des Versorgungsamts – aus welchen Gründen auch immer – (noch) nicht vorliegt?

SG Hamburg, Urteil vom 30.06.2023 - S 39 AS 517/23, BeckRS 2023, 20667