Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Hans-Jochem Mayer, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bühl
Aus beck-fachdienst Vergütungs- und Kostenrecht 01/2024 vom 11.01.2024
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Sachverhalt
Eine Anwaltskanzlei war von einer Kfz-Leasinggesellschaft außergerichtlich mit der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen aus Verkehrsunfällen beauftragt worden. Auf ihre außergerichtlichen Schreiben, mit denen sie jeweils Ersatz des Sachschadens und der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten (1,3-Geschäftsgebühren) forderte, beglich der Haftpflichtversicherer jeweils nur den Sachschaden, nicht aber die Rechtsanwaltskosten.
Daraufhin nahm die Kanzlei den Versicherer aus abgetretenem Recht auf Erstattung dieser Kosten in Anspruch. Im Laufe des Rechtsstreits zahlte der Versicherer die außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten. Die Parteien erklärten daraufhin den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt. Die Kosten des Rechtsstreits wurden dem Versicherer auferlegt. Im Kostenfestsetzungsverfahren machte die Kanzlei unter anderem eine 1,3 Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG. Das LG berücksichtigte die volle Gebühr. Auf die sofortige Beschwerde des Versicherers reduzierte das OLG den zu erstattenden Betrag auf Null. Es rechnete die vorgerichtlich entstandenen Geschäftsgebühren anteilig an, die Verfahrensgebühr wurde dadurch vollständig aufgezehrt. Dagegen legte die Kanzlei – die vom OLG zugelassene – Rechtsbeschwerde ein.
Entscheidung: Wertende Betrachtungsweise, wirtschaftliche Identität
Die Rechtsbeschwerde hatte keinen Erfolg.
Nach Vorbemerkung 3 Abs. 4 S. 1 VV RVG werde die wegen desselben Gegenstands entstandene Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet, bei Wertgebühren jedoch höchstens mit einem Gebührensatz von 0,75. Bei einer wertabhängigen Gebühr erfolge nach 3 Abs. 4 S. 5 VV RVG a. F. (jetzt: Vorbemerkung 3 Abs. 4 S. 4 VV RVG) die Anrechnung nach dem Wert des Gegenstands, der auch Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens sei.
Das Beschwerdegericht habe zu Recht angenommen, dass die Geschäftsgebühren wegen desselben Gegenstands im Sinn von Vorbemerkung 3 Abs. 4 S. 1 VV RVG entstanden seien wie die Verfahrensgebühr. Der Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit im kostenrechtlichen Sinn werde durch das Recht oder das Rechtsverhältnis definiert, auf das sich die Tätigkeit des Rechtsanwalts im Rahmen des ihm von seinem Mandanten erteilten Auftrags beziehe. Dabei sei keine formale, sondern eine wertende Betrachtungsweise angezeigt und auf die wirtschaftliche Identität abzustellen. Die Frage, ob eine vorgerichtliche anwaltliche Tätigkeit und die anschließende Klage in diesem Sinne denselben Gegenstand gem. VV Vorbem. 3 IV RVG beträfen, sei daher anhand der wirtschaftlichen Betrachtung zu entscheiden. Denn die Anrechnungsbestimmungen von Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG, § 15a Abs. 1 RVG fänden ihren Grund in dem geringeren Einarbeitungs- und Vorbereitungsaufwand, den ein bereits vorgerichtlich mit der Angelegenheit befasster Rechtsanwalt habe.
Gemessen an diesen Grundsätzen sei Gegenstand der von der Klägerin vorgerichtlich entfalteten anwaltlichen Tätigkeit die Regulierung der der Leasinggesellschaft infolge der Beschädigung ihrer Fahrzeuge entstandenen Sachschäden einschließlich der dadurch entstehenden Rechtsanwaltskosten gegenüber der Beklagten. Der dem Geschädigten wegen Beschädigung einer Sache nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB zustehende Schadensersatz umfasse grundsätzlich auch den Ersatz der zur Durchsetzung dieses Anspruchs erforderlichen Rechtsverfolgungskosten. Dass der Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit nur hinsichtlich der auf Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichteten Ansprüche in das gerichtliche Verfahren übergegangen sei, führe zu keiner anderen Beurteilung. Der Gesetzgeber habe den Fall, dass der Gegenstand der außergerichtlichen Tätigkeit nur zum Teil Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens werde, in Vorbemerkung 3 Abs. 4 S. 5 VV RVG a. F. ausdrücklich geregelt und damit zum Ausdruck gebracht, dass eine Anrechnung auch bei Teilidentität der Gegenstände zu erfolgen habe.
Eine andere Beurteilung sei auch nicht deshalb geboten, weil sich der für die Berechnung der Verfahrensgebühr maßgebliche Streitwert nach der Höhe der den alleinigen Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens bildenden Ansprüche auf Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten bestimme, wohingegen diese in den für die Berechnung der jeweiligen Geschäftsgebühr maßgeblichen Gegenstandswert nicht werterhöhend eingeflossen seien. Letzteres sei alleine darauf zurückzuführen, dass es sich um Nebenforderungen handelte, die nach der bei der Bestimmung des Gegenstandswertes nicht zu berücksichtigen gewesen seien. Dies ändere aber nichts daran, dass sich die vorgerichtliche anwaltliche Tätigkeit der Kanzlei auch auf die Regulierung der durch die Beschädigung der Fahrzeuge erforderlich gewordenen vorprozessualen Anwaltskosten bezogen habe. Die von der Kanzlei zu entfaltende Tätigkeit habe in beiden Fällen dieselben rechtlichen und tatsächlichen Punkte betroffen, weshalb eine Anrechnung auch nach dem Sinn der Vorbemerkung 3 Abs. 4 S. 1 VV RVG geboten erscheine.