Interview
Angriff auf die Justiz
Lorem Ipsum

Bereits seit Wochen gehen die Israelis auf die Straßen und demonstrieren gegen den Umbau der Justiz durch die Regierung Netanyahu. Doch trotz dieses Protests hat die Knesset Ende Februar Teile des umstrittenen Reformvorhabens gebilligt. Ist die Demokratie in Israel in Gefahr? Fragen an den Völkerrechtler Prof. Dr. Christian Walter von der Ludwig-Maxi­milians-Universität München.

2. Mrz 2023

NJW: Um was geht es bei der Justizreform in Israel?

Walter: Die Kernelemente der „Justizreform“, die übrigens in Israel inzwischen vielfach als „Verfassungskrise“ bezeichnet wird, betreffen die Rolle des Supreme Court bei der Kontrolle von Gesetzen und das Verfahren der Richterauswahl. Um die Hintergründe zu verstehen, ist ein kurzer Blick in die israelische Verfassungsgeschichte unerlässlich. Nach der Gründung des Staates Israel 1948 konnte sich die einberufene Verfassungsversammlung nicht auf die Verabschiedung einer Verfassung einigen und wandelte sich stattdessen in die erste Knesset (das israelische Parlament) um. Zugleich verständigte man sich darauf, im Laufe der Jahre sogenannte Grundgesetze (Basic Laws) anzunehmen, mit denen die wesentlichen Verfassungsfragen nach und nach geregelt werden sollten. Anstelle einer Verfassunggebung in einem einzelnen, besonders förmlichen Akt, kam es also schrittweise zum Erlass von Regelungen mit verfassungsrechtlichem Charakter, etwa betreffend die Organisation der Staatsorgane oder im Bereich der Grundrechte. Die Besonderheit dieser Grundgesetze liegt darin, dass sie zwar materiell Verfassungsfragen regeln, aber formal mit der gleichen Mehrheit und im gleichen Verfahren beschlossen werden, wie jedes andere Gesetz auch. Im Grunde genommen wurde also eigentlich nie klar zwischen pouvoir constituant und pouvoir constitué unterschieden.

NJW: Aber darin erschöpft sich die Justizreform nicht, oder?

Walter: Nein, andere Teile des Reformvorhabens betreffen die Zusammensetzung des Richterwahlausschusses, der in Zukunft von der Regierung und der Mehrheit in der Knesset dominiert sein soll, sowie die zukünftige Rolle der unabhängigen Rechtsberater in den Ministerien. Außerdem würde die bisher sehr starke Rolle der israelischen Anwaltschaft erheblich beschnitten.

NJW: Warum ist der Supreme Court der Regierung ein solcher Dorn im Auge?

Walter: Zentral für die gegenwärtigen Auseinandersetzungen ist eine Entscheidung des Supreme Court aus dem Jahr 1995 (United Mizrahi Bank Ltd. v. Migdal ­Cooperative Village). Damit hat das Gericht zwei verfassungsrechtliche Grundentscheidungen selbst getroffen: Es hat, erstens, den Vorrang der Grundgesetze vor einfachen Gesetzen postuliert, und anschließend, zweitens, die Befugnis beansprucht, einfache Gesetze am Maßstab der Grundgesetze zu messen und gegebenenfalls für nichtig zu erklären. Mit der Mizrahi-­Entscheidung hat der israelische Supreme Court sich also – ähnlich wie der US Supreme Court in der berühmten Entscheidung Marbury v. Madison im Jahr 1803 – selbst zum Verfassungs­gericht gemacht. Ein Teil des von Premierminister ­Benjamin Netanyahu und Justizminister Yariv Levin verfolgten Plans zielt darauf ab, diese Rechtsprechung rückgängig zu machen. Die Knesset soll die Möglichkeit bekommen, eine Entscheidung des Supreme Court über die Verfassungswidrigkeit eines einfachen Ge­setzes mit einfacher Mehrheit (!) zu überstimmen, es sollen im Gericht auch erhöhte Quoren für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes zur Anwendung kommen; teilweise ist sogar von Einstimmigkeit die Rede. Und dem Supreme Court soll es verwehrt sein, über die Verfassungsmäßigkeit von Grundgesetzen zu entscheiden.

NJW: Viele Israelis befürchten, dass ihr Land keine ­Demokratie mehr sein werde, wenn die Reformpläne umgesetzt würden. Wie sehen Sie das?

Walter: Vieles würde selbstverständlich davon abhängen, wie parlamentarische Mehrheit und Regierung mit den von ihnen geschaffenen neuen Befugnissen umgehen. Da aber alle Änderungen auf eine Schwächung von Kontrollbefugnissen gegenüber der Regierung hinauslaufen, besteht in jedem Fall eine ganz erhebliche Gefahr für die demokratische Struktur des Landes. Man muss dabei berücksichtigen, dass dem Supreme Court im Laufe der Jahre eine wichtige Rolle im israelischen System der Gewaltenteilung zugefallen ist. Der Exekutive kommt schon wegen der prekären inneren und äußeren Sicherheit des Landes traditionell eine starke Stellung zu. So war es nicht etwa das Parlament, sondern der Supreme Court, der 1993 in einer Grundsatzentscheidung Premierminister Rabin dazu zwang, seinen damaligen Innenminister wegen einer strafrechtlichen Anklage zu entlassen. Ironischerweise ging es schon in diesem Grundsatzurteil um Arje Deri, den Vorsitzenden der ultra-orthodoxen Schas-Partei, der Mitte Januar 2023 erneut eine vergleichbare Entscheidung des Supreme Court und seine anschließende Entlassung durch Premierminister Netanyahu provoziert hat. Auch für solche Fälle sollen in Zukunft die Kontrollbefugnisse des Supreme Court beschnitten werden. Das Fehlen zentraler verfassungsrechtlicher Regeln über die Ausgestaltung der Kontrolle erweist sich hier als erhebliche Schwäche.

NJW: Welche weiteren Aspekte des Justizumbaus sehen Sie als Gefahr für die Demokratie in Israel?

Walter: Wie gesagt: Sogar die Grundgesetze können ohne Weiteres mit einfacher Mehrheit in der Knesset geändert werden. Nun sollen sie auch noch ausdrücklich von jeglicher verfassungsgerichtlichen Kontrolle freigestellt werden. Im Zusammenspiel mit dem Fehlen sonstiger verfassungsrechtlicher Schranken kann hier eine einfache parlamentarische Mehrheit relativ leicht einen weitgehenden Umbau der Verfassungsstrukturen in die Wege leiten. Auftreten und Zusammensetzung der neuen Regierung erwecken wenig Vertrauen in einen verantwortungsvollen Umgang mit den weitreichenden Befugnissen, die hier geschaffen werden sollen. Das ruft Ängste hervor, die meines Erachtens sehr gut nachvollziehbar sind.

NJW: Was bedeutet die Reform des Richterwahlausschusses für die Unabhängigkeit der Justiz?

Walter: Wie man die Auswahl von Richterinnen und Richtern fair und angemessen organisiert, ist eines der ungelösten Probleme des Rechtsstaats. Auch bei uns führen wir diese Diskussion ja immer wieder. Von daher muss man vorab festhalten, dass es keine Patent­lösung gibt, sondern vieles von konkreten, auch historischen und rechtskulturellen Faktoren abhängt. Aber bei aller Vielgestaltigkeit und Unvollkommenheit bestehender Verfahren: Es ist nicht zu übersehen, dass die vorgesehene neue Zusammensetzung des Richterwahlausschusses die Gewichte massiv zugunsten der Regierung und der sie jeweils tragenden parlamentarischen Mehrheit verschieben würde. Das kann nicht gut für die Unabhängigkeit der Justiz sein, weil eine ganz erhebliche Gefahr besteht, dass die jeweiligen Mehrheiten diese Befugnis nutzen werden, um die Personalauswahl in ihrem Sinne zu dominieren.

NJW: Wäre der Umbau der israelischen Justiz in der Form denkbar, wenn der Staat eine geschriebene Verfassung hätte? Ist deren Fehlen Teil des Problems?

Walter: Wahrscheinlich liegt das Problem tiefer. Das Fehlen einer Verfassung ist ja kein Zufall, sondern seinerseits Ausdruck nur schwer überbrückbarer gesellschaftlicher Spannungen. Hinter vielen der nun auf­geworfenen verfassungsrechtlichen Probleme stehen unaufgelöste, sehr grundsätzliche Differenzen in der israelischen Gesellschaft, die gerade auch deren religiös geprägte und deren säkulare Teile voneinander trennen. Unter anderem an solchen Differenzen scheiterte 1950 schon die Verfassunggebung, sie verhinderten in den 1990 er Jahren eine noch weitgehendere Grundrechtskodifikation und sie manifestieren sich jetzt eben auch in den sehr unterschiedlichen Vor­stellungen von der Rolle der Gerichtsbarkeit. Was es also bräuchte, ist ein Verständigungsprozess über die verfassungsrechtlichen Grundstrukturen des Staates. Manche der jetzt gerade auch aus den juristischen ­Fakultäten heraus ergriffenen Initiativen lassen sich in diesem Sinne deuten. Wenn es dazu käme, hätte die derzeitige Krise einen positiven Effekt. Aber das ist ein sehr weiter Weg.

Prof. Dr. Christian Walter ist Inhaber des Lehrstuhls für Völkerrecht und Öffentliches Recht an der LMU München, Mitglied des Vorstands der Deutsch-Israelischen Juristenvereinigung sowie Mitherausgeber und -autor einer Einführung in das israelische Recht (C.H. Beck 2019).

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Interview: Monika Spiekermann.