NJW-Editorial
Angeschlagene Ziviljustiz
NJW-Editorial

Seit vielen Jahren gehen die Eingangszahlen bei den Zivilgerichten mehr oder weniger gleichmäßig zurück. In der Zeit von 2005 bis 2019 ist die Rede von über 600.000 Verfahren, mithin etwa einem Drittel weniger Prozessen. Das Bundesministerium der ­Justiz hatte daher einem Forschungskonsortium im Jahr 2020 den Auftrag erteilt, die Ursachen des Rückgangs zu ermitteln. Dieser Bericht liegt nun vor – er datiert auf den 21.4.​2023, ist über 400 Seiten stark und sehr aussagekräftig.

19. Mai 2023

Die Autorinnen und Autoren arbeiten eine Vielzahl von Ursachen für den Rückgang ­heraus. Die Befragung von 7.500 Privatpersonen ergab, dass der hohe Aufwand, die Kosten der Rechtsverfolgung, die Verfahrensdauer und die Schwierigkeit, die Erfolgsaussichten abzuschätzen, die Hauptgründe für ein Absehen von einer Klage sind. Anwältinnen und Anwälte empfehlen oft, von Klagen, zu denen man früher noch geraten hätte, Abstand zu nehmen. Klärt man Mandantinnen und Mandanten über die (Kosten-)Risiken eines Prozesses, aber auch über dessen Dauer auf, zucken viele zusammen – und machen die Forderung oft nicht mehr geltend. Die Autorinnen und Autoren gehen im Bericht zutreffend auf die Verfahrensdauer als wirtschaftliches Hindernis ein – wer im privaten Baurecht unterwegs ist, muss die Mandantschaft zwingend über das steigende Insolvenzrisiko eines Bauträgers bei über Jahre dauernden Prozessen vorab informieren. Indes: Es gibt auch andere Aspekte der Verfahrensdauer, die im Bericht vielleicht zu kurz kommen. Zivilprozesse stellen für viele Mandantinnen und Mandanten schon nach kurzer Prozesszeit häufig eine gewaltige psychische Belastung dar. „Fast wöchentlich ein Schreiben von Ihnen im Briefkasten, das habe ich nicht mehr ausgehalten“, ist ein Satz, den man nach Jahren eines Verfahrens hört, wenn es darum geht, einen Prozess dann doch endlich zu vergleichen. Über diese seelischen Anstrengungen eines Verfahrens hat die Anwaltschaft ebenfalls im Vorfeld aufzuklären – und sie tut es oft. Mit Folgen: Viele nehmen dann von eigentlich sinnvollen Klagen Abstand.

Die Verfahrensdauer in Kombination mit den steigenden Kosten (Beispiel: gute Sachver­ständigengutachten zur Ursache von Schimmelpilz in Wohnräumen kosten kaum noch unter 5.000 Euro) dürften die Hauptgründe sein, wenn seltener geklagt wird. Effektiver Rechtsschutz ist also faktisch weniger gewährleistet, weil das System es verhindert. Dies ist ein Problem für den Rechtsstaat, auch wenn Ministerien es oft herunterspielen. Denn: die Zahlen haben sich weiter verschlechtert. Der Untersuchungszeitraum des Berichts endet 2019, also vor der Pandemie. Wir erhalten mittlerweile Terminladungen mit oft mehr als einem Jahr Vorlaufzeit. Das war vor vier Jahren noch nicht so extrem. Insofern ist der äußerst lesenswerte Bericht schon wieder teilweise veraltet. Fest steht indes: Die Ziviljustiz lebt, aber sie ist erkrankt, in manchen Teilen erheblich. Die Studie ist daher auch ein Hilferuf an die Verantwortlichen in der Politik.

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Rechtsanwalt Dr. Michael Selk, Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht, für Bau- und ​Architektenrecht sowie für Strafrecht, ist Partner der Kanzlei Weiland Rechtsanwälte.