Urteilsanalyse
Angemessene Dauer von Strafverfahren ist einzelfallbezogen zu beurteilen
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Eine angemessene Verfahrensdauer ist laut EGMR anhand der Umstände des Einzelfalles und unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu beurteilen: Komplexität des Falles, Verhalten der Verfahrensbeteiligten sowie Bedeutung des Falles für den Beschwerdeführer. In den hier vorliegenden Fällen hat der Gerichtshof keine Anhaltspunkte erkennen können, die die Gesamtdauer der Verfahren auf nationaler Ebene rechtfertigen. Somit hielten die Strafverfahren übermäßig lange an und entsprachen dem Erfordernis einer "angemessenen Verfahrensdauer" nicht.

23. Nov 2021

Anmerkung von 
Wiss. Mit. Dr. Jana Hinz, LL.M. (Glasgow), Knierim & Kollegen Rechtsanwälte 

Aus beck-fachdienst Strafrecht 23/2021 vom 18.11.2021

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Sachverhalt

Der Ukraine wird als Beschwerdegegnerin (BG) vorgeworfen, in fünf Fällen die Angemessenheit der Verfahrensdauer deutlich überschritten zu haben. Das Strafverfahren gegen den ersten Beschwerdeführer/die erste Beschwerdeführerin K.M.D. (BF 1) läuft seit mehr als fünf Jahren und vier Monaten. Im zweiten Fall des/r O.D.U. (BF 2) dauert das Strafverfahren bereits mehr als zehn Jahre und ein Monat, und im dritten Fall des/r A.I.V. (BF 3) bereits mehr als vier Jahre und fünf Monate. Die Verfahrensdauer des Strafverfahrens gegen den vierten Beschwerdeführer/die vierte Beschwerdeführerin A.T.L. (BF 4) beträgt mehr als zehn Jahre und vier Monate und gegen den fünften Beschwerdeführer/die fünfte Beschwerdeführerin O.M.N. (BF 5) beträgt die Verfahrensdauer mehr als sieben Jahre und zehn Monate. Einzig das Strafverfahren gegen BF 4 fand vor drei verschiedenen Instanzen statt, während alle anderen Verfahren lediglich erstinstanzlich erfolgten. Alle fünf BF legten wegen der langen Verfahrensdauer und dem Fehlen von wirksamen Beschwerdemöglichkeiten im ukrainischen Recht Beschwerde beim EGMR ein.

Entscheidung

Aufgrund des vergleichbaren Beschwerdeinhalts entschied der EGMR in einem Urteil über alle fünf Beschwerden. Sie seien insofern zulässig und begründet, als sie die übermäßige Dauer des Strafverfahrens und die fehlenden Beschwerdemöglichkeiten hiergegen rügen.

Daher müsse die BG innerhalb von drei Monaten Entschädigungszahlungen an die BF leisten. Diese würden 1.500 EUR an BF 1, 4.200 EUR an BF 2, 1.200 EUR an BF 3, 2.400 EUR an BF 4 und 3.000 EUR an BF 5 betragen. Nach Ablauf der dreimonatigen Zahlungsfrist seien Verzugszinsen in Höhe des Spitzenrefinanzierungssatzes der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zu zahlen.

Dieses Urteil beruhe auf den Feststellungen des Gerichts, dass die Dauer der Strafverfahren, die zwischen vier Jahren und acht Monaten und zehn Jahren und vier Monaten batragen habe, und das Fehlen jeglicher Beschwerdemöglichkeiten hiergegen im ukrainischen Recht Verstöße gegen Art. 6 Abs. 1, Art. 13 EMRK darstellen würden. Art. 6 EMRK schütze das Recht darauf, dass über eine strafrechtliche Anklage im Rahmen eines fairen gerichtlichen Verfahrens innerhalb einer angemessenen Frist verhandelt werde. Art. 13 EMRK garantiere darüber hinaus im Falle einer Verletzung der in der EMRK anerkannten Rechte oder Freiheiten das Recht auf Einlegung einer Beschwerde gegenüber einer innerstaatlichen Instanz.

Die Angemessenheit der Verfahrensdauer sei insbesondere anhand der Umstände des Einzelfalles und unter Berücksichtigung weiterer Kriterien zu beurteilen. Diese weiteren Kriterien würden die Komplexität des Falles, das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und den Gegenstand des Strafverfahrens sowie den möglichen Strafausspruch umfassen. Im vorliegenden Fall habe der EGMR allerdings keinerlei Anhaltspunkte erkennen können, die die übermäßige Dauer der fünf Strafverfahren (von teilweise mehr als zehn Jahren) in der Ukraine rechtfertigen könnten. Deshalb und unter Zugrundelegung seiner bisherigen einschlägigen Rechtsprechung sei die Dauer aller vorliegenden Strafverfahren übermäßig lang gewesen.

Zudem würden in der Ukraine keinerlei Beschwerdemöglichkeiten existieren, mithilfe derer die Beschwerdeführer gegen eine solche übermäßige Dauer hätten vorgehen können. Gemäß Art. 41 EMRK, der im Falle eines Verstoßes gegen die EMRK eine Entschädigungszahlung an die geschädigten Parteien normiere, falls das innerstaatliche Recht nur eine teilweise Wiedergutmachung zulasse, sei die oben genannte Entschädigungssumme angemessen. Sofern BF 1 zusätzlich Beschwerde wegen einer Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK einlege, weise das Gericht diese gem. Art. 35 Abs. 4 EMRK zurück. Sie sei entweder bereits unzulässig (Art. 34, 35 EMRK) oder unbegründet; das Gericht könne keine diesbezüglichen Rechtsverletzungen feststellen.

Praxishinweis

Die Problematik der unangemessenen Dauer eines Strafverfahrens macht als Unterfall des in Art. 6 EMRK normierten Grundsatzes des fairen Verfahrens rund 40 % der angezeigten Verstöße gegen die EMRK aus.

Auch in Deutschland stellte der EGMR bereits in mehr als 20 Fällen solche Verstöße fest (vgl. Eckle v. Germany, ECHR Judgment 15.7.1982 - 8130/78; Uhl v. Germany, ECHR Judgment 10.2.2005 - 64387/01 im Strafrecht). Dies führte zur Einführung eines Beschwerdemechanismus, der greift, wenn ein Verfahrensbeteiligter infolge der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens einen Nachteil erleidet, §§ 198, 199 GVG. Entscheidend ist, dass es auch im deutschen Recht entsprechend der besprochenen EGMR-Entscheidung keine fixen Grenzwerte gibt, sondern sich die Unangemessenheit nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und dem Verhalten Verfahrensbeteiligter und Dritter richtet, § 198 Abs. 1 GVG. Darüber hinaus stellt eine unangemessene Verfahrensdauer im deutschen Recht einen eigenständigen Strafzumessungsgesichtspunkt dar (BGH, Beschl. v. 26.10.2017 - 1 StR 359/17).

Freilich sind all diese Entwicklungen erhebliche Verbesserungen zugunsten der Angeklagten. Sie bekämpfen allerdings nur die Auswirkungen der Problematik und nicht ihre Wurzel – deutsche Strafverfahren dauern weiterhin lange. Ob eine durchschnittliche Dauer von acht Monaten bei erstinstanzlichen Strafgerichten und mehr als 20 Monaten bei Landgerichten unangemessen ist, kann jedoch – wie der EGMR in seiner Entscheidung zurecht hervorhebt – nur im Einzelfall entschieden werden.

EGMR, Urteil vom 28.10.2021 - 27117/20, 35539/20, 45324/20, 55594/20, 470/21, BeckRS 2021, 32323