Anmerkung von
Rechtsanwältin Christel von der Decken, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 19/2020 vom 09.10.2020
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Sachverhalt
Die Klägerin begehrt für die Zeit ab 01.01.2015 die Zahlung eines Teil des ihrem Bruder, dem Beklagten,gezahlten Pflegegeldes. Der Bruder wird von der Klägerin seit Jahren teilweise gepflegt. Er steht seit 2017 unter Betreuung. Anerkannt ist ein GdB von 100. Der Betreuer lehnt die Zahlung des geforderten Pflegegeldes ab. Gemäß einem vom Betreuungsgericht 2009 eingeholten neurologischen Gutachten befindet sich der Beklagte auf dem Entwicklungsstand eines 7 bis 8jährigen Kindes. Änderungen seien nach dem Gutachten nicht zu erwarten.
Die Klägerin begehrt als Gegenleistung für erbrachte Pflegeleistungen rückwirkend die anteilige Zahlung des Pflegegeldes i.H.v. 120 EUR monatlich an sich. Das LG wies die auf Zahlung von knapp 6.000 EUR gerichtete Klage mit der Begründung ab, es fehle an einer vertraglichen Grundlage. Ein Anspruch nach den Grundsätzen der Geschäftsführung ohne Auftrag sei nicht gegeben. Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin.
Entscheidung
Das OLG weist die Berufung durch Beschluss gem. § 522 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung zurück. Der Anspruch auf Pflegegeld für selbstbeschaffte Pflegehilfe gem. § 37 SGB XI steht allein dem pflegebedürftigen Versicherten und nicht der Pflegeperson zu. Dies beruht auf dem Willen des Gesetzgebers, mit dieser Geldleistung die Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung des Pflegebedürftigen zu stärken. Er soll seine Pflegehilfen selbst gestalten können. Das Pflegegeld soll kein Entgelt für die von der Pflegeperson erbrachten Pflegeleistungen darstellen, sondern den Pflegebedürftigen in den Stand setzen, Angehörigen und sonstigen Pflegepersonen eine materielle Anerkennung für die im häuslichen Bereich sichergestellte Pflege zukommen zu lassen. Mit Blick auf diese eindeutige gesetzliche Regelung lässt sich ein eigener Pflegegeldanspruch der Pflegeperson auch nicht auf den Grundsatz von Treu und Glauben gem. § 242 BGB stützen.
Eine eigene Gestaltungsmöglichkeit des Pflegebedürftigen setzt aber voraus, dass er selbst in der Lage ist, seine Vermögensverhältnisse zu überschauen. Dies war hier nicht der Fall. Die jeweiligen Betreuer haben jedoch das Pflegegeld nicht zweckwidrig verwendet, auch nicht insoweit, als es für den allgemeinen Lebensbedarf ausgegeben wurde.
Gegen eine konkludent abgeschlossene Vereinbarung über Pflege gegen Entgelt spricht, dass die Klägerin und ihre Schwester die Pflegeleistung als Familienangehörige erbracht haben, und zwar nach dem Tod der Mutter im Jahre 2007. Der Beklagte und sein Betreuer mussten nicht davon ausgehen, dass mit der Entgegennahme der von der Klägerin seitdem erbrachten Leistungen nach objektiven Empfängerhorizont ein Dienstvertrag abgeschlossen wurde. Unstreitig hat der Betreuer jedenfalls einer solchen Vereinbarung nicht zugestimmt. Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag gem. §§ 670, 677, 683 BGB sind nicht begründbar. Gleiches gilt für Ansprüche aus § 812 BGB. Die Klägerin hat trotz der Hinweise des jetzigen Betreuers, dass eine Vergütung nicht erfolgen kann, ohne die finanzielle Situation des Beklagten zu gefährden, nicht davon abgesehen, weitere Leistungen zu erbringen.
Praxishinweis
1. Kein Vertrag – kein Geld: Ohne den Sachverhalt im Einzelnen nachvollziehen zu können, dürfte die Entscheidung der aktuellen Rechtslage entsprechen (vgl. auch die kurzen Hinweise von Doering-Striening, NZFam 2020, 140 und Seligmann, Rechtsdienst der Lebenshilfe 2020, 144.
2. Pflege ist ein „Geben und Nehmen“, in den Worten des Gesetzgebers eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, § 8 Abs. 1 SGB XI. Die Schwester handelt i.d.S. solidarisch. Das dem Bruder wegen der Pflegebedürftigkeit gewährte Pflegegeld wurde hier zur Aufrechterhaltung eines eigenen Haushalts (einschließlich Sanierung des Hauses) verwandt. Würden die Angehörigen ihre Pflege nun einstellen, könnte die Pflegekasse prüfen, ob die vom MDK für notwendig erachteten Pflegeleistungen überhaupt erbracht werden. Wird dies dauerhaft verneint, entfällt der Leistungsanspruch (dazu Philipp, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Aufl. 2019, § 37 SGB XI, Rn. 2; ausführlich Diepenbruck, in: BeckOK Sozialrecht, § 37 SGB XI, Rn. 13 – Stand: 01.03.2019). Der Betreuer muss sich also durchaus mit der Frage befassen, ob es dem Sinn und Zweck des Pflegegeldes entspricht, dieses für den eigenen Unterhalt bzw. die Haussanierung etc. zu verwenden und Aufwendungen der Pflegeperson außer Acht zu lassen.
3. Es hängt vom Umfang der tatsächlichen Pflegetätigkeit ab, ob und inwieweit die Schwester als Pflegeperson gem. § 44 SGB XI in der gesetzlichen Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung versichert ist. Nach dem Sachverhalt ist wohl davon auszugehen, dass die Schwester sich um ihren Bruder nicht allein kümmert, sondern zusammen mit einer oder mehreren anderen Schwestern. Ob sie dann die für den Sozialversicherungsschutz erforderlichen Mindestpflegedauer von 10 Stunden pro Woche gem. § 19 SGB XI erreicht, lässt sich aus dem mitgeteilten Sachverhalt nicht herleiten.
M.E. kann sich der Betreuer auf Dauer nicht darauf berufen, das Pflegegeld müsse für den Unterhalt des zu Pflegenden verwandt werden und Angehörige, die als Pflegeperson tätig werden und auf deren Pflege es nach dem MDK-Gutachten auch ankommt, hätten das Nachsehen. Dies umso mehr, als das Pflegegeld auf die Grundsicherung nicht angerechnet wird, § 13 Abs.5 SGB XI
OLG Dresden, Beschluss vom 11.11.2019 - 4 U 1243/19, BeckRS 2019, 32226