Urteilsanalyse
Anfangsverdacht wegen der Vorlage gefälschter Impfnachweise in Apotheken aufgrund der Rechtslage vor dem 24.11.2021
Urteilsanalyse
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Ermittlungsmaßnahmen nach Vorlage gefälschter Impfnachweise in Apotheken vor der Gesetzesänderung vom 24.11.2021 sind - so das LG Heilbronn - jedenfalls derzeit als zulässig anzusehen.

16. Feb 2022

Anmerkung von 
wiss. Mit. Dr. Sören Lichtenthäler, Knierim und Kollegen, Mainz 

Aus beck-fachdienst Strafrecht 03/2022 vom 11.02.2022

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Sachverhalt

Gegen die B wird ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Urkundenfälschung geführt, weil sie am 16.11.2021 in Weinsberg einen gefälschten Impfausweis hinsichtlich zwei tatsächlich nicht erfolgter Covid-19-Impfungen vorgezeigt haben soll, um hierdurch die Mitarbeiterin der Apotheke zur Ausstellung eines digitalisierten Impfzertifikats zu bewegen. Im Rahmen dieses Ermittlungsverfahrens beantragte die StA beim AG den Erlass eines Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlusses, den das AG zurückwies, da das in Rede stehende Verhalten der B nach der bis 23.11.2021 geltenden Rechtslage aufgrund einer Strafbarkeitslücke kein strafbares Verhalten dargestellt habe.

Entscheidung

Auf die Beschwerde der StA hin hob die Kammer den ablehnenden Beschluss des AG auf und erließ den beantragten Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss, da die Ansicht des AG, wonach die Vorlage von gefälschten Impfausweisen nach der Rechtslage vor der Novelle der Urkundendelikte vom 24.11.2021 nicht gem. §§ 267, 279 a.F. StGB strafbar gewesen sei, nicht zu dessen Ablehnung hätte führen dürfen.

Ausgehend von der Prämisse, dass es sich bei Impfbescheinigungen um Gesundheitszeugnisse i.S. der §§ 277 ff. StGB (a.F.) handele, referiert die Kammer in ihrer Begründung zunächst die zum (Konkurrenz-)Verhältnis von § 279 a.F. und § 269 Abs. 1 StGB vertretenen Ansichten: Weil § 279 StGB a.F. mit dem Gebrauchmachen von gefälschten Gesundheitszeugnissen gegenüber Behörden oder Versicherungsgesellschaften auch einen speziellen Fall des Gebrauchens einer unechten Urkunde erfasste, für diesen aber einen milderen Strafrahmen vorsah, wurde allgemein angenommen, die Norm entfalte jedenfalls dann eine Sperrwirkung gegenüber § 269 Abs. 1 StGB, wenn ihre tatbestandlichen Voraussetzungen vollständig vorlagen. Streitig sei demgegenüber gewesen, ob diese Sperrwirkung auch dann Platz greifen sollte, wenn der Täter zwar ein gefälschtes Gesundheitszeugnis gebrauchte, dies aber nicht gegenüber einem der in § 279 a.F. StGB genannten Adressaten. Dafür wurde angeführt, dass anderenfalls ein Wertungswiderspruch drohe: Ließe man in dieser Konstellation einen Rückgriff auf den allgemeineren Tatbestand des § 269 StGB zu, so stünde derjenige, der gegenüber einer Versicherungsgesellschaft oder Behörde von einem gefälschten Gesundheitszeugnis Gebrauch machte, besser (würde nämlich milder bestraft) als derjenige, der von einem solchen Falsifikat etwa nur im privaten Rechtsverkehr Gebrauch machte. Dieser Argumentation hält die Kammer entgegen, dass sie keinesfalls zwingend sei und der historische Gesetzgeber die Privilegierung des § 279 StGB a.F. möglicherweise auch deshalb eingeführt hat, weil er davon ausgegangen sei, dass „Versicherungen und Behörden die Fälschungen leichter zu erkennen vermögen als Privatpersonen."

Unabhängig davon, welcher der Ansichten man letztlich zustimmt, sei die Frage jedenfalls umstritten und ober- oder höchstrichterlich noch nicht geklärt. Hieraus zieht die Kammer in prozessualer Hinsicht die Konsequenz, dass der für den beantragten Beschluss erforderliche Anfangsverdacht nicht allein deshalb verneint werden dürfe, weil die StA der für die B günstigeren Sicht zuneigt. Insoweit gelte nämlich nichts anderes als im Rahmen der Anklageerhebung, bei der die StA sich an der ständigen Rechtsprechung des BGH bzw. des jeweiligen Obergerichts zu orientieren habe und dort, wo es an einer solchen Judikatur fehlt und mehrere Wege gangbar sind, „im Interesse einer effektiven und einheitlichen Strafverfolgungspraxis" Anklage erheben bzw. – dem vorgelagert – ermitteln müsse. Im vorliegenden Fall bedürfe es aufgrund der unterschiedlichen Rechtsmeinungen einer Klärung durch die Obergerichte, was aber zwingend Anklageerhebungen und dies wiederum entsprechende Ermittlungsverfahren und voraussetze. Die mit den dafür erforderlichen Maßnahmen (hier: Hausdurchsuchung und Beschlagnahme) verbundenen Grundrechtseingriffe seien „nicht so gewichtig wie eine effektive und insbesondere einheitliche Strafverfolgungspraxis" und deshalb hinzunehmen. Einen möglichen Verbotsirrtum der Beschuldigten lehnt die Kammer schließlich ab, weil sie angesichts der unklaren Rechtslage auf die Straflosigkeit ihres Verhaltens nicht hätte vertrauen dürfen.

Praxishinweis

Die Coronapandemie hat die Praxis erstmals mit einem Problem konfrontiert, für das sich zuvor, nicht anders als für die ihm zugrunde liegenden Straftatbestände, im Wesentlichen nur Fachleute des Urkundenstrafrechts interessierten, nämlich die Frage nach dem Konkurrenzverhältnis von §§ 277, 279 a.F. und § 267 StGB. Zwar hat sich mit der Novellierung der Urkundendelikte vom 24.11.2021 diese Frage nunmehr erledigt. Altfälle dürften die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte jedoch auch in Zukunft noch beschäftigen. Während auf obergerichtlicher Ebene das OLG Bamberg unter Bezugnahme auf einige landgerichtliche Judikate mit Beschluss vom 17.1.2022 entschied, dass die §§ 277, 279 StGB a.F. einen Rückgriff auf allgemeinen Urkundendelikte sperren (BeckRS 2022, 320 Rn. 10), nährt die vorliegende Entscheidung die Sorge, dass nicht alle Gerichte die nach altem Recht bestehenden Strafbarkeitslücken hinnehmen, sondern stattdessen versuchen werden, sie „durch dogmatisch wenig überzeugende Konstruktionen zu schließen" (Erb, in: Münchener Kommentar zum StGB, § 277 Rn. 9). Der „Clou" der Entscheidung liegt freilich darin, dass das LG Heilbronn meinte, diese Frage nach seiner „prozessualen Lösung" (trotz deutlich erkennbarer Tendenz) letztlich nicht entscheiden zu müssen. Denn ihm zufolge müsse die StA im Fall einer ober- oder höchstrichterlich noch nicht geklärten Rechtslage einen Anfangsverdacht bereits dann annehmen, wenn die Bejahung einer Strafbarkeit in rechtlicher Hinsicht vertretbar erscheint („mehrere Wege gangbar sind"). Unabhängig davon also, ob die jeweilige StA (oder, falls seine Tätigkeit nötig ist, die jeweilige Ermittlungsrichterin) selbst der Rechtsauffassung ist, dass das dem Beschuldigten zur Last gelegte Verhalten strafbar ist oder nicht, soll sie in solchen Fällen zur Ermittlung und ggfs. Anklageerhebung verpflichtet sein. Damit begrenzt das LG die Kompetenz der StA zur selbstständigen rechtlichen Bewertung in einem Maß, das deutlich über die bisher vom BGH aufgestellten Grundsätze hinausgeht. Denn danach ist die StA bei einem Sachverhalt, den sie selbst für straflos hält, nur dann zur Erhebung einer Anklage (bzw. zur Ermittlung) verpflichtet, wenn es eine dieser Auffassung entgegenstehende, ständige oder gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung gibt (BGHSt 15, 155 = NJW 1960, 2346). Das dafür maßgeblich angeführte Argument, anderenfalls würde die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und die Gleichheit vor dem Gesetz gefährdet, trägt in einer Konstellation, in der es an einer solchen Einheitlichkeit gerade fehlt, ersichtlich nicht. Vielmehr ist das LG Heilbronn der Ansicht, dass die StA nicht nur die negative Pflicht treffe, die gleichmäßige Rechtsanwendung nicht zu unterminieren, sondern zudem die positive, sie allererst herbeizuführen. Eine derart weitreichende Einschränkung der Kompetenz der StA zur selbstständigen Beurteilung der Rechtslage ist indes mit ihrer Stellung als unabhängiger Behörde (§ 150 GVG) nicht zu vereinbaren und steht auch im Widerspruch zur Rechtsprechung des BGH sowie der, soweit ersichtlich, einhelligen Meinung im Schrifttum. Hiernach hat nämlich dort, wo noch keine feste höchstrichterliche Rspr. existiert, die Anklagebehörde selbst zu prüfen, ob der von ihr ermittelte Sachverhalt einem Straftatbestand unterfällt, und muss im Falle vereinzelter oder einander widersprechender Entscheidungen die darin enthaltenen Gedanken lediglich „berücksichtigen" (BGH NJW 1960, 2346, 2347).

LG Heilbronn, Beschluss vom 11.01.2022 - 1 Qs 95/21, BeckRS 2022, 435