An der Wirklichkeit vorbei
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Beim Gesetz zur Förderung von Videoverhandlungen ist eine Einigung in Sicht. Danach sind diese an zwei Voraussetzungen geknüpft: Der Fall muss dafür geeignet sein und es müssen ausreichende Kapazitäten zur Verfügung stehen. Dieser „Rollback“ auf den Regierungsentwurf wird, anders als die vom Bundestag beschlossene Fassung, der Rechtswirklichkeit gerecht.

18. Apr 2024

16:0 – einstimmig rief der Bundesrat im Dezember 2023 den Vermittlungsausschuss an. Das Gesetz für mehr Videokonferenztechnik in den Gerichten sei weder ausgewogen noch praktikabel. Jetzt zeichnet sich eine Lösung ab. Eine informelle Arbeitsgruppe hat dafür Vorschläge erarbeitet.

Videoverhandlungen sind danach künftig – in den betroffenen Prozessordnungen – an zwei Voraussetzungen geknüpft: Erstens muss der konkrete Fall dafür geeignet sein. Dem Gericht steht hier ein Beurteilungsspielraum zu. Zweitens müssen ausreichende Kapazitäten für eine Videoverhandlung zur Verfügung stehen. Dieser „Vorbehalt des Möglichen“ schließt Ansprüche gegen die Länder auf zusätzliche Kapazitäten aus. Er ist weit auszulegen. Neben Technik erfasst er auch Personal und Räume. Sind die beiden Voraussetzungen erfüllt, liegt es grundsätzlich im freien richterlichen Ermessen, ob eine Videoverhandlung angeordnet oder gestattet wird. Eine Ausnahme gilt allein vor den Zivil- und Finanzgerichten. Beantragt ein Verfahrensbeteiligter dort seine Teilnahme per Videoverhandlung, soll diese – allein und nur – ihm gestattet werden. Wird ein ­Antrag auf Teilnahme per Videoverhandlung abgelehnt, ist dies künftig „kurz“ zu begründen. Dafür reicht – entsprechend § 227 IV 2 ZPO – die knappe Angabe des Ab­lehnungsgrundes. Die Möglichkeit vollvirtueller Verhandlungen und die Erprobung des Online-Streamings von Gerichtsverhandlungen entfallen. Der „Sofarichter“ verkannte die Bedeutung der Gerichte für den Rechtsstaat, hätte ihrem Ansehen geschadet und auf Dauer ihre Existenz in der Fläche gefährdet. Zurecht wurde er daher wieder ins „Reich der Science-Fiction“ verbannt. Der Vorsitzende muss die Videoverhandlung künftig von der Gerichtsstelle aus leiten. Auch andere Mitglieder des Gerichts dürfen nur bei Vorliegen erheblicher Gründe per Video teilnehmen. Diese Gründe sind eng aus­zulegen. Das Gericht muss in aller Regel nach außen als Einheit auftreten. Bund und Länder werden daneben lediglich ermächtigt, bis 2033 vollvirtuelle Verhand­lungen an ihren Zivilgerichten zu erproben. Dass davon Gebrauch gemacht wird, ist vorerst nicht zu erwarten. Die Länder haben daran kein Interesse. Am BGH sind vollvirtuelle Verhandlungen weder angemessen noch sinnvoll.

Insgesamt sind die Vorschläge ein „Rollback“ auf den Regierungsentwurf. Die Ampel-Koalition holen sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Das ist kein Einzelfall in der Rechtspolitik. Bereits viermal landeten Gesetze aus dem BMJ in dieser Legislatur im Vermittlungsausschuss. Unter allen Ministerien ist das mit weitem Abstand spitze. Zu oft gehen die Vorhaben an der Rechtswirklichkeit vorbei und nehmen die Rechtspraxis weder mit noch ernst, sondern bringen sie gegen sich auf. Besserung ist nicht zu erwarten. Mit dem Cannabisgesetz, der digitalen Hauptverhandlungsdokumentation oder dem „V-Leute-Gesetz“ bleibt die Ampel ihrer bisherigen Linie vielmehr treu.

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Dr. Martin Plum (CDU) ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Richter am Arbeitsgericht a. D..