Anmerkung von
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Sebastian Braun, LEX MEDICORUM, Kanzlei für Medizinrecht, Leipzig
Aus beck-fachdienst Medizinrecht 07/2021 vom 02.07.2021
Diese Urteilsbesprechung ist Teil des monatlich erscheinenden Fachdienstes Medizinrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Medizinrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Medizinrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de
Sachverhalt
Bei dem Angeklagten handelte es sich um einen Facharzt für Augenheilkunde. Im Rahmen dieser Tätigkeit führte er u. a. Kateraktoperationen durch. Im Jahr 2009 erlitt er einen Schlaganfall mit Gehirnblutung und einmaligem epileptischen Anfall. Als Folge dessen wurde u.a. eine Sprachstörung sowie eine rechtsseitige unvollständige Lähmung einer Körperseite diagnostiziert. Nach Durchführung der notwendigen Rehabilitationsmaßnahmen, die von einem gescheiterten Suizidversuch unterbrochen wurden, begann er im März 2011 wieder, eigenständig ambulante Augenoperationen durchzuführen, da er sich hierzu in der Lage fühlte. In den Jahren 2011 - 2016 operierte der Angeklagte ca. 3.000 Patienten. Dabei unterblieb eine Belehrung der Patienten über die Gesundheitsprobleme des Angeklagten. Auch in den diesem Verfahren zugrunde liegenden 9 Fällen erfolgte keine Mitteilung darüber, dass er einen Schlaganfall erlitten habe und welche Folgen dies für seine operative Tätigkeit haben könnte. Im Rahmen der Durchführung dieser Operationen kam es zu Beschädigungen am Auge. Der Angeklagte war aufgrund seiner neurologischen und motorischen Einschränkungen objektiv ungeeignet, operative Tätigkeiten als Augenarzt durchzuführen. Dies wurde insbesondere im Rahmen des Ermittlungsverfahrens durch ein Sachverständigengutachten festgestellt. Nach Kenntnis dieses Gutachtens, stellte der Angeklagte seine Tätigkeit als Operateur umgehend ein.
Entscheidung
Das Gericht bejahte eine Strafbarkeit des Arztes wegen fahrlässiger Körperverletzung gemäß § 229 StGB.
Hierbei stellte es insbesondere darauf ab, dass der ärztliche Eingriff (Kataraktoperation) nicht durch eine ordnungsgemäße Aufklärung gerechtfertigt sei. Mit den Geschädigten habe nur eine „Grundaufklärung“ über die Risiken der Operation im Allgemeinen stattgefunden. Eine zusätzliche Aufklärung „über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Angeklagten, welche sich als solche Mängel in der Person des Angeklagten darstellen, die für die sachgerechte Berufsausübung von Bedeutung sind“ (Rn. 187), sei sorgfaltspflichtwidrig nicht erfolgt. Eine Strafbarkeit wegen eines vorsätzlichen Körperverletzungsdelikts scheide jedoch aufgrund eines Erlaubnistatbestandsirrtumes des Angeklagten gemäß § 16 StGB aus, da er fest davon ausgegangen sei, die hinreichenden Fähigkeiten für die Durchführung der Operationen zu besitzen. Er habe sich daher eine ordnungsgemäße Einwilligung der Patienten vorgestellt.
Praxishinweis
Die Entscheidung ist von erheblicher Bedeutung für die Rechtspraxis und Dogmatik des Medizinstrafrechts. Das Urteil sorgt dafür, dass der Aufklärungspflichtenkatalog um einen Bereich erweitert wird, der in dieser Form bislang nicht Gegenstand der Debatte war (vgl. jedoch Nowrousian, JR 2020, 364 ff.). Der Arzt wird nunmehr als verpflichtet angesehen, über höchstpersönliche Aspekte – wozu auch eine Krankheit gehört – proaktiv Auskunft zu erteilen.
Ein dem Fall des LG Kempten ähnlich gelagertes Beispiel wäre, dass ein Neurochirurg an einem Tremor leidet. Jedoch hat das LG Kempten in seinen Entscheidungsgründen u.a. recht weit formuliert, dass der Arzt über solche Mängel aufzuklären hat, die für die „sachgerechte Berufsausübung“ von Bedeutung sind.
Hier wäre natürlich zu fragen: Wo ist die Grenze zu ziehen? Ist der jahrelang erfahrene Arzt zum Beispiel verpflichtet, den Patienten darüber aufzuklären, dass er das Examen erst im zweiten Anlauf geschafft hat? Müssen Patienten nunmehr darüber informiert werden, dass der sie behandelnde Arzt eventuell wegen Abrechnungsbetruges verurteilt worden ist?
Im Rahmen der hier vorgestellten Körperverletzungsdelikte muss die Antwort natürlich lauten: Nein! Denn anderenfalls würde man eine Ausweitung der Aufklärungspflichten beschwören, die so nicht mehr lebensnah und nicht praktikabel wäre. Der Fokus bei der Konkretisierung der Aufklärungspflicht muss zwingend auf der Frage liegen, ob der Umstand, über den aufzuklären ist, Einfluss auf die sachgerechte Durchführung der ärztlichen Heilbehandlung hat. Die Aufklärung betrifft somit das originäre „ärztliche Handwerk“, nämlich die unmittelbare Behandlung des Patienten.
Im vorliegenden Fall besteht natürlich eine unmittelbare Verbindung zwischen der Krankheit des Angeklagten und deren Einfluss auf die Operationsfertigkeiten und somit die körperliche Unversehrtheit der Patienten. Dies aufgreifend zeigt das LG Kempten auch, wann eine Verletzung der Aufklärungspflicht ausscheidet: Die Beeinträchtigung der ärztlichen Fähigkeiten muss sicher ausgeschlossen werden können. In der Praxis sollten sich betroffene Ärzte nach erfolgter Reha ausdrücklich attestieren lassen, dass sie ohne Risiko für die Patienten wieder operieren können (so zutreffend Hoven, GesR 2021, 293).
LG Kempten, Urteil vom 08.10.2020 - 3 Ns 111 Js 10508/14 (AG Kempten), BeckRS 2020, 35198