Urteilsanalyse

Ärzt­li­che Auf­klä­rungs­pflicht über ei­ge­ne Ge­sund­heits­pro­ble­me
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Ein Arzt ist nach einem Ur­teil des LG Kemp­ten zur Auf­klä­rung über sol­che in sei­ner Per­son lie­gen­den Ri­si­ken ver­pflich­tet, die Ein­fluss auf die sach­ge­rech­te Durch­füh­rung der ärzt­li­chen Heil­be­hand­lung haben kön­nen. Un­ter­lässt er diese ge­bo­te­ne Auf­klä­rung, macht er sich auch dann straf­bar, wenn er die Be­hand­lung sach­ge­recht aus­führt.

14. Jul 2021

An­mer­kung von 
Rechts­an­walt und Fach­an­walt für Me­di­zin­recht Dr. Se­bas­ti­an Braun, LEX MED­ICORUM, Kanz­lei für Me­di­zin­recht, Leip­zig
 
Aus beck-fach­dienst Me­di­zin­recht 07/2021 vom 02.07.2021

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des mo­nat­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes Me­di­zin­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im Me­di­zin­recht be­inhal­tet er er­gän­zen­de Leit­satz­über­sich­ten und einen Über­blick über die re­le­van­ten neu er­schie­ne­nen Auf­sät­ze. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis des Me­di­zin­rechts. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de

Sach­ver­halt

Bei dem An­ge­klag­ten han­del­te es sich um einen Fach­arzt für Au­gen­heil­kun­de. Im Rah­men die­ser Tä­tig­keit führ­te er u. a. Ka­ter­ak­t­ope­ra­tio­nen durch. Im Jahr 2009 er­litt er einen Schlag­an­fall mit Ge­hirn­blu­tung und ein­ma­li­gem epi­lep­ti­schen An­fall. Als Folge des­sen wurde u.a. eine Sprach­stö­rung sowie eine rechts­sei­ti­ge un­voll­stän­di­ge Läh­mung einer Kör­per­sei­te dia­gnos­ti­ziert. Nach Durch­füh­rung der not­wen­di­gen Re­ha­bi­li­ta­ti­ons­maß­nah­men, die von einem ge­schei­ter­ten Sui­zid­ver­such un­ter­bro­chen wur­den, be­gann er im März 2011 wie­der, ei­gen­stän­dig am­bu­lan­te Au­gen­ope­ra­tio­nen durch­zu­füh­ren, da er sich hier­zu in der Lage fühl­te. In den Jah­ren 2011 - 2016 ope­rier­te der An­ge­klag­te ca. 3.000 Pa­ti­en­ten. Dabei un­ter­blieb eine Be­leh­rung der Pa­ti­en­ten über die Ge­sund­heits­pro­ble­me des An­ge­klag­ten. Auch in den die­sem Ver­fah­ren zu­grun­de lie­gen­den 9 Fäl­len er­folg­te keine Mit­tei­lung dar­über, dass er einen Schlag­an­fall er­lit­ten habe und wel­che Fol­gen dies für seine ope­ra­ti­ve Tä­tig­keit haben könn­te. Im Rah­men der Durch­füh­rung die­ser Ope­ra­tio­nen kam es zu Be­schä­di­gun­gen am Auge. Der An­ge­klag­te war auf­grund sei­ner neu­ro­lo­gi­schen und mo­to­ri­schen Ein­schrän­kun­gen ob­jek­tiv un­ge­eig­net, ope­ra­ti­ve Tä­tig­kei­ten als Au­gen­arzt durch­zu­füh­ren. Dies wurde ins­be­son­de­re im Rah­men des Er­mitt­lungs­ver­fah­rens durch ein Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten fest­ge­stellt. Nach Kennt­nis die­ses Gut­ach­tens, stell­te der An­ge­klag­te seine Tä­tig­keit als Ope­ra­teur um­ge­hend ein.

Ent­schei­dung

Das Ge­richt be­jah­te eine Straf­bar­keit des Arz­tes wegen fahr­läs­si­ger Kör­per­ver­let­zung gemäß § 229 StGB.

Hier­bei stell­te es ins­be­son­de­re dar­auf ab, dass der ärzt­li­che Ein­griff (Ka­ta­rak­t­ope­ra­ti­on) nicht durch eine ord­nungs­ge­mä­ße Auf­klä­rung ge­recht­fer­tigt sei. Mit den Ge­schä­dig­ten habe nur eine „Grund­auf­klä­rung“ über die Ri­si­ken der Ope­ra­ti­on im All­ge­mei­nen statt­ge­fun­den. Eine zu­sätz­li­che Auf­klä­rung „über die ge­sund­heit­li­chen Be­ein­träch­ti­gun­gen des An­ge­klag­ten, wel­che sich als sol­che Män­gel in der Per­son des An­ge­klag­ten dar­stel­len, die für die sach­ge­rech­te Be­rufs­aus­übung von Be­deu­tung sind“ (Rn. 187), sei sorg­falts­pflicht­wid­rig nicht er­folgt. Eine Straf­bar­keit wegen eines vor­sätz­li­chen Kör­per­ver­let­zungs­de­likts schei­de je­doch auf­grund eines Er­laub­nis­tat­be­stands­irr­tu­mes des An­ge­klag­ten gemäß § 16 StGB aus, da er fest davon aus­ge­gan­gen sei, die hin­rei­chen­den Fä­hig­kei­ten für die Durch­füh­rung der Ope­ra­tio­nen zu be­sit­zen. Er habe sich daher eine ord­nungs­ge­mä­ße Ein­wil­li­gung der Pa­ti­en­ten vor­ge­stellt.

Pra­xis­hin­weis

Die Ent­schei­dung ist von er­heb­li­cher Be­deu­tung für die Rechts­pra­xis und Dog­ma­tik des Me­di­zin­straf­rechts. Das Ur­teil sorgt dafür, dass der Auf­klä­rungs­pflich­ten­ka­ta­log um einen Be­reich er­wei­tert wird, der in die­ser Form bis­lang nicht Ge­gen­stand der De­bat­te war (vgl. je­doch Now­rou­si­an, JR 2020, 364 ff.). Der Arzt wird nun­mehr als ver­pflich­tet an­ge­se­hen, über höchst­per­sön­li­che As­pek­te – wozu auch eine Krank­heit ge­hört – pro­ak­tiv Aus­kunft zu er­tei­len.

Ein dem Fall des LG Kemp­ten ähn­lich ge­la­ger­tes Bei­spiel wäre, dass ein Neu­ro­chir­urg an einem Tre­mor lei­det. Je­doch hat das LG Kemp­ten in sei­nen Ent­schei­dungs­grün­den u.a. recht weit for­mu­liert, dass der Arzt über sol­che Män­gel auf­zu­klä­ren hat, die für die „sach­ge­rech­te Be­rufs­aus­übung“ von Be­deu­tung sind.

Hier wäre na­tür­lich zu fra­gen: Wo ist die Gren­ze zu zie­hen? Ist der jah­re­lang er­fah­re­ne Arzt zum Bei­spiel ver­pflich­tet, den Pa­ti­en­ten dar­über auf­zu­klä­ren, dass er das Ex­amen erst im zwei­ten An­lauf ge­schafft hat? Müs­sen Pa­ti­en­ten nun­mehr dar­über in­for­miert wer­den, dass der sie be­han­deln­de Arzt even­tu­ell wegen Ab­rech­nungs­be­tru­ges ver­ur­teilt wor­den ist?

Im Rah­men der hier vor­ge­stell­ten Kör­per­ver­let­zungs­de­lik­te muss die Ant­wort na­tür­lich lau­ten: Nein! Denn an­de­ren­falls würde man eine Aus­wei­tung der Auf­klä­rungs­pflich­ten be­schwö­ren, die so nicht mehr le­bens­nah und nicht prak­ti­ka­bel wäre. Der Fokus bei der Kon­kre­ti­sie­rung der Auf­klä­rungs­pflicht muss zwin­gend auf der Frage lie­gen, ob der Um­stand, über den auf­zu­klä­ren ist, Ein­fluss auf die sach­ge­rech­te Durch­füh­rung der ärzt­li­chen Heil­be­hand­lung hat. Die Auf­klä­rung be­trifft somit das ori­gi­nä­re „ärzt­li­che Hand­werk“, näm­lich die un­mit­tel­ba­re Be­hand­lung des Pa­ti­en­ten.

Im vor­lie­gen­den Fall be­steht na­tür­lich eine un­mit­tel­ba­re Ver­bin­dung zwi­schen der Krank­heit des An­ge­klag­ten und deren Ein­fluss auf die Ope­ra­ti­ons­fer­tig­kei­ten und somit die kör­per­li­che Un­ver­sehrt­heit der Pa­ti­en­ten. Dies auf­grei­fend zeigt das LG Kemp­ten auch, wann eine Ver­let­zung der Auf­klä­rungs­pflicht aus­schei­det: Die Be­ein­träch­ti­gung der ärzt­li­chen Fä­hig­kei­ten muss si­cher aus­ge­schlos­sen wer­den kön­nen. In der Pra­xis soll­ten sich be­trof­fe­ne Ärzte nach er­folg­ter Reha aus­drück­lich at­tes­tie­ren las­sen, dass sie ohne Ri­si­ko für die Pa­ti­en­ten wie­der ope­rie­ren kön­nen (so zu­tref­fend Hoven, GesR 2021, 293).

LG Kemp­ten, Ur­teil vom 08.10.2020 - 3 Ns 111 Js 10508/14 (AG Kemp­ten), BeckRS 2020, 35198