Nach einer Umfrage der Richterzeitung bei den Justizministerien und Generalstaatsanwaltschaften der Länder haben die Staatsanwaltschaften bislang rund 280.000 Strafakten nochmals händisch überprüft. Allein in Nordrhein-Westfalen haben die Behörden etwa 86.000 Altfälle daraufhin abgeklopft, ob sie für eine Amnestie in Frage kommen. Dabei haben sie rund 9.000 Verfahren herausgefiltert, die zumindest ein Delikt zum Gegenstand hatten, das nach neuem Recht keine Straftat oder Ordnungswidrigkeit mehr ist. In Bayern haben die Staatsanwaltschaften 41.500 Verfahren nochmals überprüft, bei den Gerichten sind bislang mehr als 6.200 Verfahren zur Neufestsetzung der Strafe eingegangen, in etwa 3.500 Fällen haben die Gerichte bereits entschieden. In Sachsen haben die Strafvollstreckungsbehörden mehr als 29.000 Verfahren überprüft. In 673 Fällen kam es zu einem Straferlass, in bislang 1.030 Fällen setzten die Gerichte die Strafe neu fest.
In Baden-Württemberg haben die Staatsanwaltschaften rund 25.000 Verfahrensakten auf einen Cannabisbezug und eine Amnestie abgeklopft, wobei der Aufwand allein dieses ersten Prüfdurchgangs zwischen 15 und 60 Minuten pro Akte gelegen hat. Niedersachsen meldet bislang 16.000 Prüffälle, aus denen die Staatsanwaltschaften rund 3.600 relevante Verfahren herausgefiltert haben. Stichproben zufolge endeten rund 15 Prozent davon mit einem Straferlass, in etwa jedem dritten herausgefilterten Fall war die Strafe abzuändern. In Rheinland-Pfalz haben die Staatsanwaltschaften bislang rund 10.000 Verfahren überprüft. Mecklenburg-Vorpommern meldet 6.500 geprüfte Akten – in 183 Fällen haben die Staatsanwaltschaften die Vollstreckung von Geld- oder Bewährungsstrafen eingestellt, in weiteren 178 Fällen bei Gericht den Antrag gestellt, Strafen neu festzusetzen. Die Staatsanwaltschaft im Saarland hat mehr als 4.000 Fälle mit erhöhter Prüfrelevanz identifiziert – in 494 Fällen hat sie Strafen erlassen und in 334 Verfahren eine Neufestsetzung der Strafe bei Gericht beantragt. Hessen meldet geschätzt mindestens 34.000 überprüfte Fälle, Berlin 5.800, Hamburg 5.500, Sachsen-Anhalt 5.085, Thüringen 4.500, Brandenburg 3.500, Schleswig-Holstein 2.015 und Bremen 531.
Auch mittelfristig rechnen die befragten Justizministerien und Justizpraktiker nicht mit einer spürbaren Entlastung durch die Teilfreigabe von Cannabis. Der Besitz, der Handel und die Abgabe von Cannabis sind auch weiterhin unter bestimmten Voraussetzungen strafbar oder eine Ordnungswidrigkeit. Das Gesetz mit seinen zahlreichen neuen Straftat- und Bußgeldtatbeständen wird nach Einschätzung vieler Befragter zu beträchtlichem Ermittlungsaufwand führen und die Justiz vor neue, komplizierte Auslegungsfragen stellen. Zudem wird darauf verwiesen, dass die Arbeitsbelastung im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität vor allem durch komplexe Großverfahren gegen die Organisierte Kriminalität entsteht, die durch das KCanG sicher nicht weniger würden.
Länder warnen vor weiteren Amnestieplänen
Das KCanG erlaubt Erwachsenen ab 18 Jahren seit Anfang April den Besitz von bis zu 25 Gramm Cannabis in der Öffentlichkeit und 50 Gramm am Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt. Die Straffreiheit für den Besitz gilt über eine Amnestie-Regelung auch rückwirkend. Alle rechtskräftigen Verurteilungen mit Cannabis-Bezug, die sich am 1.4.2024 noch in der Vollstreckung befanden, waren oder sind von den Staatsanwaltschaften nochmals händisch zu überprüfen. Auch für die Gerichte bedeutet die Amnestieprüfung viel Aufwand: Ist der Angeklagte wegen mehrerer Straftaten verurteilt worden, hat das Gericht die nach neuem Recht nicht mehr relevante Betäubungsmittelstraftat nachträglich außer Betracht zu lassen und die Strafe neu festzusetzen. Viele dieser gerichtlichen Überprüfungen laufen noch. Das KCanG stellt sich damit für die Justizpraxis als das befürchtete Bürokratiemonster heraus. Es bindet auf unabsehbare Zeit Personal, das angesichts stark steigender Verfahrenszahlen in der Strafjustiz an anderer Stelle schmerzlich fehlt. Die Justizminister der Länder haben die Ampel inzwischen aufgefordert, auf rückwirkende Straferlasse im Bereich der Massenkriminalität zu verzichten. Sie seien geeignet, „die verfassungsrechtlich gebotene effektive Strafverfolgung empfindlich zu beeinträchtigen“, so der Beschluss der Justizministerkonferenz.
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Anm. d. Red.: Es wurde klargestellt, dass am Wohnsitz mehr als die zuvor nur genannten 25 Gramm erlaubt sind. (geändert am 09.10.2024, 12.05 Uhr, md)