Beim tieferen Blick in die im August veröffentlichten 2023er-Zahlen des Statistischen Bundesamts für die Zivilgerichte fällt auf, dass Fluggastklagen ein wesentlicher Treiber für die gestiegenen Fallzahlen sind. Wie die NJW bereits in Heft 8/2024 berichtete, ist die Zahl der Entschädigungsklagen von Verbrauchern wegen verspäteter oder stornierter Flugreisen nach einer Corona-Delle zuletzt wieder sprunghaft gestiegen. Die Amtsgerichte an den 20 größten Flughafenstandorten meldeten für 2023 mehr als 125.000 neue Verfahren, so viele wie nie zuvor. Dass die zuständigen Gerichte unter einer Verfahrenswelle ächzen, bestätigt nun auch die Wiesbadener Rechtspflegestatistik: Demnach hat sich die Zahl der erledigten Fluggastklagen bei den Amtsgerichten von 55.887 Fällen in 2022 auf 108.092 in 2023 nahezu verdoppelt. Die Fluggastrechtesachen haben inzwischen sogar die Verkehrsunfallsachen überholt (104.353 Fälle), lediglich Streitigkeiten um Wohnraummiete haben die Gerichte im vergangenen Jahr noch häufiger bearbeitet (176.066 Fälle).
Deutlicher Anstieg vom Allzeittief 2022
Wenngleich die bundesweiten Fallzahlen der Amtsgerichte nach dem Allzeittief des Jahres 2022 (715.384 Eingänge) nun erstmals wieder um acht Prozent gestiegen sind, liegen sie im historischen Vergleich weiterhin auf niedrigem Niveau. So weist die Statistik für das Jahr 2008 mit 1.272.658 Neuzugängen etwa eine halbe Million mehr Fälle aus als 15 Jahre später. Auch vor fünf Jahren lag die Verfahrenszahl der Amtsgerichte mit 923.933 noch rund 150.000 höher als 2023. Umso wichtiger ist es, dass der Gesetzgeber die Attraktivität der Ziviljustiz für Verbraucher und Unternehmen weiter verbessern will. So sollen erweiterte Zuständigkeiten für die Amtsgerichte dazu beitragen, dass die Fallzahlen steigen, kleinere Gerichte erhalten bleiben und Rechtsuchende ortsnah und schnell Hilfe bei der Justiz finden. Die Bundesregierung will die Streitwertgrenze für die Zuständigkeit der Amtsgerichte anheben und einige Spezialgebiete neu zwischen den Amts- und Landgerichten verteilen, womit sie auch Anregungen der Bundesländer aufgreift. Die Pläne sehen vor, dass die Streitwertgrenze für die Zuständigkeit der Amtsgerichte von derzeit 5.000 Euro auf 8.000 Euro steigt. Damit soll im Wesentlichen die allgemeine Lohn- und Preisentwicklung seit dem Jahr 1993 nachgezeichnet werden, in dem die Streitwertgrenze zuletzt angehoben worden war. Einige zivilrechtliche Streitigkeiten sollen den Amtsgerichten darüber hinaus unabhängig vom Streitwert zugewiesen werden, während für andere Spezialgebiete im Gegenzug die Landgerichte generell die Eingangsinstanz sein sollen. Damit will die Ampel die Spezialisierung der Zivilgerichte für komplexe Rechtsgebiete weiter ausbauen und Gerichtsverfahren insgesamt beschleunigen. Konkret sollen nachbarrechtliche Streitigkeiten, bei denen die Ortskenntnis häufig eine wichtige Rolle spielt, streitwertunabhängig vor den Amtsgerichten landen. Streitigkeiten um Heilbehandlungen, über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und anlässlich von Presseveröffentlichungen will die Ampel dagegen den Landgerichten zuschlagen.
Allerdings gilt es, die Auswirkungen der neuen Zuständigkeiten auf den Personalbedarf der Ziviljustiz genau in den Blick zu nehmen. Ohne eine Neubewertung der Zivilverfahren in den verschiedenen Instanzen würde eine massive Absenkung des rechnerischen Personalbedarfs drohen, die aber nicht gerechtfertigt ist, weil die Verfahren identisch und unverändert komplex bleiben. Ein Vergleich der aktuellen Basiszahlen der Landgerichte mit denen der Amtsgerichte verdeutlicht die Schieflage: So wird zum Beispiel ein Bau- und Architektenverfahren beim Landgericht mit einer Basiszahl von 1.193 Minuten bewertet. Ein vergleichbares Verfahren beim Amtsgericht würde ohne eine Neubewertung lediglich mit 322 Minuten bewertet. Ein Verkehrsunfall beim Landgericht wird mit 747 Minuten taxiert, beim Amtsgericht sind es derzeit nur 232 Minuten. Für sonstige Zivilsachen billigt das Justizsystem PEBB§Y den Landgerichten 569 Minuten zu, während es beim Amtsgericht nur rund ein Viertel dieses Zeitbudgets ist.
Wird der künftige Aufwand für die Gerichte beim Personalbedarf nicht realistisch nachgezeichnet, droht eine zu kurze Personaldecke, die zu längeren Verfahrenslaufzeiten führt. Das wäre dann das Gegenteil von mehr Bürgernähe und Attraktivität der Justiz.
Dieser Inhalt ist zuerst in der NJW erschienen. Sie möchten die NJW kostenlos testen? Jetzt vier Wochen gratis testen inkl. Online-Modul NJWDirekt.