Aus der Justiz

Rhe­to­rik und Rea­li­tät
Aus der Justiz
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Die Di­gi­ta­li­sie­rung der Jus­tiz ist das Thema der Stun­de – kaum eine Woche ver­geht ohne Er­folgs­mel­dung der Bun­des­län­der oder des Bun­des­jus­tiz­mi­nis­ters. Die Rea­li­tät im "Ma­schi­nen­raum" der Jus­tiz ist eine an­de­re: der Um­stieg auf den elek­tro­ni­schen Rechts­ver­kehr und die E-Akte läuft noch nicht über­all rund.

16. Apr 2024

Der Deut­sche Rich­ter­bund hat bun­des­weit 1286 Ju­ris­tin­nen und Ju­ris­ten aus 483 Ge­rich­ten und Staats­an­walt­schaf­ten zum Um­set­zungs­stand bei der Di­gi­ta­li­sie­rung be­fragt. Auf­fäl­lig ist, dass viele Be­frag­te die Leis­tungs­fä­hig­keit der ein­ge­setz­ten Sys­te­me und IT mehr oder we­ni­ger deut­lich kri­ti­sie­ren. So heißt es aus Baden-Würt­tem­berg, das neben drei an­de­ren Län­dern auf das E-Akten-Sys­tem EAS setzt, die Soft­ware sei ins­ge­samt un­zu­ver­läs­sig und feh­ler­an­fäl­lig, un­nö­tig kom­pli­ziert und zu lang­sam. Der Zeit­auf­wand bei der Ar­beit mit der E-Akte sei etwa 20% höher als bei der Pa­pier­ak­te. Ähn­li­ches ist über EAS aus Schles­wig-Hol­stein zu hören. In an­de­ren Aus­künf­ten wird be­klagt, dass der Um­stieg auf die E-Akte zu einem ex­tre­men Sca­n­a­uf­wand führe, weil viele Na­tu­ral­par­tei­en bis­lang keine elek­tro­ni­sche Über­mitt­lungs­op­ti­on hät­ten.

Per­for­mance-Pro­ble­me brem­sen Di­gi­tal­wen­de

Auch in Bran­den­burg, das wie fünf wei­te­re Bun­des­län­der auf das E-Akten-Sys­tem EIP baut, kon­sta­tie­ren ei­ni­ge An­wen­der "er­heb­li­che Per­for­mance-Pro­ble­me". Aus Meck­len­burg-Vor­pom­mern kommt eben­falls die Klage, die Leis­tungs­fä­hig­keit der Tech­nik sei un­zu­rei­chend. Die Be­ar­bei­tungs­zei­ten für die Rich­ter­schaft und für die Ser­vice­ein­hei­ten hät­ten sich seit E-Akten-Ein­füh­rung deut­lich ver­län­gert. In Nord­rhein-West­fa­len, das wie fünf wei­te­re Län­der auf das E-Akten-Sys­tem E2A setzt, ist eben­falls Kri­tik zu hören. Die An­wen­dung sei re­gel­mä­ßig über­las­tet, was die Ak­ten­be­ar­bei­tung er­schwe­re. Ei­ni­ge Amts­ge­rich­te be­rich­ten von wie­der­hol­ten Stö­run­gen, die die Ar­beit voll­stän­dig lahm­leg­ten. Nicht zu­frie­den sind auch man­che in Hes­sen mit E2A. Die ein­ge­setz­te Tech­nik er­schwe­re die Rechts­fin­dung, senke die Ent­schei­dungs­qua­li­tät und ziehe Ver­fah­ren in die Länge, schreibt einer. Ein Son­der­fall ist Sach­sen- An­halt, wo die E-Akte auch in der Zi­vil­jus­tiz noch gar nicht im Ein­satz ist. Die Rich­ter­schaft kann dort elek­tro­nisch ein­ge­hen­de Schrift­sät­ze stan­dard­mä­ßig nicht ins Fach­ver­fah­ren über­neh­men. Wäh­rend die An­wäl­te ver­pflich­tet sind, ihre Schrift­sät­ze in elek­tro­ni­scher Form an das Ge­richt zu sen­den, muss die Wacht­meis­te­rei sie aus­dru­cken und in den Ge­schäfts­gang geben. Wei­ter wird be­rich­tet, dass an den Amts­ge­rich­ten prak­tisch keine Vi­deo­ver­hand­lun­gen mög­lich sind und an den Land­ge­rich­ten nur ver­ein­zelt Vi­deo­kon­fe­renz­tech­nik vor­han­den ist. Weit­aus po­si­ti­ver als in der "Di­gi­tal­wüs­te" Sach­sen-An­halt und bes­ser als in vie­len an­de­ren Bun­des­län­dern ist das Stim­mungs­bild in Rhein­land-Pfalz. Die Mehr­zahl der Um­fra­ge-Teil­neh­mer äu­ßert sich hier eher zu­frie­den. Die grö­ß­ten Bau­stel­len seien mitt­ler­wei­le be­ho­ben, die Vor­tei­le der E-Akte über­wö­gen deut­lich.

Straf­ge­rich­te und Staats­an­walt­schaf­ten ar­bei­ten bis­lang nur ver­ein­zelt mit der E-Akte. Nach den bis­he­ri­gen Er­fah­run­gen mit dem elek­tro­ni­schen Rechts­ver­kehr macht sich in der Straf­jus­tiz al­ler­dings große Skep­sis breit, ob ein rei­bungs­lo­ser Um­stieg auf die E-Akte recht­zei­tig bis An­fang 2026 ge­lin­gen kann. Die Pro­ble­me zeich­nen sich den An­ga­ben zu­fol­ge sehr klar ab. Wegen zahl­rei­cher Schnitt­stel­len zu Po­li­zei­dienst­stel­len, Fi­nanz­be­hör­den, Be­zirks­kran­ken­häu­sern, an­de­ren Jus­tiz­be­hör­den und sons­ti­gen Äm­tern sei ein Chaos zu­min­dest in der An­fangs­pha­se zu be­fürch­ten. Bis­lang gebe es keine tech­ni­sche Ver­knüp­fung mit den po­li­zei­li­chen Sys­te­men. Es sei ab­zu­se­hen, dass ein Um­stieg auf die füh­ren­de E-Akte nicht ohne er­heb­li­chen Per­so­nal­zu­wachs bei Po­li­zei und Jus­tiz ge­lin­gen kann. Auch sei die IT-In­fra­struk­tur der Jus­tiz nicht im An­satz auf die zu er­war­ten­den Da­ten­men­gen aus­ge­rich­tet.

Viel­fach mo­niert wird in der Um­fra­ge, dass in der Jus­tiz wei­ter­hin IT-Fach­leu­te (in aus­rei­chen­der Zahl) feh­len, die bei tech­ni­schen Pro­ble­men ver­läss­lich und kurz­fris­tig hel­fen kön­nen. Auch sinn­vol­le KI-As­sis­tenz ist in der Brei­te der Jus­tiz noch nicht an­ge­kom­men, wenn­gleich es eine große Of­fen­heit dafür gibt. Eines zieht sich wie ein roter Faden durch die Aus­künf­te: Nie­mand will zu­rück zur Pa­pier­ak­te. Die Kri­tik be­zieht sich nicht auf das "ob", son­dern auf das "wie" der bis­he­ri­gen Di­gi­ta­li­sie­rung. Aus Sicht vie­ler Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen ver­läuft sie deut­lich zu schlep­pend. Ver­al­te­te, feh­ler­an­fäl­li­ge oder um­ständ­li­che Soft­ware­lö­sun­gen und IT brem­sen die täg­li­che Ar­beit viel­fach noch aus, Me­di­en­brü­che und lange Scan­stre­cken ma­chen den elek­tro­ni­schen Rechts­ver­kehr mit­un­ter zur Farce. Die Di­gi­ta­li­sie­rung der Jus­tiz braucht mehr Tempo.

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Sven Rebehn ist Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes und Chefredakteur der Deutschen Richterzeitung.