Anmerkung von
RA Prof. Dr. Christian Arnold, Gleiss Lutz, Stuttgart
Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 23/2022 vom 15.06.2023
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Sachverhalt
Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche der Klägerin unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellung der Leiharbeitnehmer („equal pay“) für Monate Januar bis April 2017. Die Klägerin war aufgrund eines sachgrundlos befristeten Arbeitsverhältnisses bei der Beklagten, die gewerblich Arbeitnehmerüberlassung betreibt, als Leiharbeitnehmerin in Teilzeit beschäftigt. Von Januar bis April 2017 war sie hauptsächlich einem Unternehmen des Einzelhandels als Kommissioniererin überlassen und verdiente zuletzt 9,23 EUR brutto/Stunde. Nach den Behauptungen der Klägerin hatten vergleichbare Stammarbeitnehmer einen Stundenlohn von 13,64 EUR brutto. Unter Berufung auf den Gleichstellungsgrundsatz des § 8 I AÜG (§ 10 IV 1 AÜG a.F.) macht die Klägerin eine Differenzvergütung von 1.296,72 EUR brutto geltend. Nach ihrer Auffassung ist das auf ihr Leiharbeitsverhältnis kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit Anwendung findende Vertragswerk von iGZ und ver.di mit Art. 5 III RL 2008/104/EG und der dort verlangten Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer nicht vereinbar. ArbG und LAG wiesen die Klage ab. Der 5. Senat legte unionsrechtliche Fragen dem EuGH vor, der diese mit Urteil vom 15.12.2022 (FD-ArbR 2023, 454899 – TimePartner Personalmanagement) beantwortete.
Entscheidung
Die Revision der Klägerin hatte keinen Erfolg. Nach Auffassung des BAG hat die Klägerin keinen Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt wie vergleichbare Stammarbeitnehmer des Entleihers. Die Beklagte ist aufgrund des wegen beiderseitiger Tarifgebundenheit auf das Leiharbeitsverhältnis Anwendung findenden Tarifwerks von iGZ und ver.di nach § 8 II 2 AÜG nur verpflichtet, die tarifliche Vergütung zu zahlen. Im Zusammenspiel mit den gesetzlichen Schutzvorschriften für Arbeitnehmer genüge das Tarifwerk den Anforderungen des Art. 5 III RL 2008/101/EG. Die durch eine geringere Vergütung als Stammarbeitnehmer bedingte Schlechterstellung lasse Art. 5 III RL 2008/100/EG ausdrücklich zu, sofern dies unter „Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“ erfolge. Dazu müssen nach Auffassung des EuGH Ausgleichsvorteile eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung ermöglichen. Ein möglicher Ausgleichsvorteil könne sowohl bei unbefristeten als auch bei befristeten Leiharbeitsverhältnissen die Fortzahlung des Entgelts auch in verleihfreien Zeiten sein. Das einschlägige Tarifwerk gewährleiste die Fortzahlung der Vergütung in verleihfreien Zeiten. Außerdem habe der deutsche Gesetzgeber mit § 11 IV 2 AÜG für den Bereich der Leiharbeit zwingend sichergestellt, dass Verleiher das Wirtschafts- und Betriebsrisiko für verleihfreie Zeiten uneingeschränkt tragen, weil der Anspruch auf Annahmeverzugsvergütung nach § 615 S. 1 BGB im Leiharbeitsverhältnis nicht abbedungen werden könne. Darüber hinaus dürfe die Vergütung von Leiharbeitnehmern die staatlich festgesetzten Lohnuntergrenzen oder den gesetzlichen Mindestlohn nicht unterschreiten. Schließlich sei die Möglichkeit zur Abweichung vom Grundsatz des gleichen Arbeitsentgelts zeitlich auf die ersten neun Monate des Leiharbeitsverhältnisses begrenzt.
Praxishinweis
Das BAG entscheidet die für die Leiharbeitsbranche hochbedeutsame Frage, ob das verbreitet zur Anwendung gelangende Tarifwerk von iGZ und ver.di eine wirksame Abweichung vom Grundsatz des „equal pay“ vorsieht. Die Beantwortung dieser Frage war nach der Entscheidung des EuGH vom 15.12.2022 (a.a.O.) mit Spannung erwartet worden. Lässt ein Tarifvertrag eine niedrigere Vergütung zum Nachteil von Leiharbeitnehmern zu, muss dieser Tarifvertrag nach Auffassung des EuGH den Leiharbeitnehmern, um den Gesamtschutz zu achten, Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren, die geeignet sind, ihre Ungleichbehandlung auszugleichen. Wie solche Vorteile aussehen könnten, war nach der Entscheidung des EuGH unklar; teilweise wurde nach dem Gesetzgeber gerufen (dazu Thüsing, NZA 2023, 31). Das BAG scheint nach der vorliegenden (FD-ArbR 2023, 457682) erfüllbare Anforderungen zu stellen. Danach reicht es im Zusammenspiel mit den gesetzlichen Schutzbestimmungen für Leiharbeitnehmer aus, wenn der Tarifvertrag eine Fortzahlung des Entgelts auch in verleihfreien Zeiten gewährleistet. Daran können sich auf die übrigen Tarifwerke der Leiharbeitsbranche orientieren.
BAG, Urteil vom 31.05.2023 - 5 AZR 143/19 (LAG Nürnberg)