NJW-Editorial
Ab­hil­fe­kla­ge (schon) vor der Um­set­zung
NJW-Editorial

Die These mag auf den ers­ten Blick kühn an­mu­ten: Die Ver­bands­kla­gen­richt­li­nie (EU) 2020/1828, deren Um­set­zung in deut­sches Recht auch ein hal­bes Jahr nach Ver­strei­chen der Frist hier­für noch immer auf sich war­ten lässt, könn­te in ihrem Kern­an­lie­gen auch schon im gel­ten­den Recht ver­wirk­licht wer­den.

13. Jul 2023

Die Ver­bands­kla­gen­richt­li­nie (EU) 2020/1828 war bis zum 25.12.​2022 in das na­tio­na­le Recht um­zu­set­zen, sie soll­te ab dem 25.6.​2023 an­zu­wen­den sein (Art. 24 I 3). Bei­des hat der deut­sche Ge­setz­ge­ber nicht er­reicht, ein Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren ist schon an­hän­gig: Das dafür vor­ge­se­he­ne Um­set­zungs­ge­setz (VDuG) wurde von der Bun­des­re­gie­rung zu­nächst erst im März 2023 be­schlos­sen. Der Rechts­aus­schuss des Bun­des­ta­ges führ­te am 10.5. eine Ex­per­ten­an­hö­rung durch. Seit­dem war erst­mal Funk­stil­le. Jetzt hat der Bun­des­tag das noch­mals ge­än­der­te Ge­setz be­schlos­sen. Die Zu­stim­mung des Bun­des­rats steht noch aus. Der Zeit­punkt des In­kraft­tre­tens ist wei­ter un­ge­wiss.

Es bleibt die Frage, ob die Richt­li­nie in ihrem Kern­an­lie­gen nicht auch schon im gel­ten­den Recht um­ge­setzt wer­den kann. Wohl ja. Der nach § 606 ZPO kla­ge­be­fug­te Ver­band kann sich zur Mus­ter­fest­stel­lungs­kla­ge (MFK) pas­sen­de Ver­brau­cher­an­sprü­che ver­schaf­fen und diese als Pro­zess­stand­schaf­ter oder als In­kas­so-Sam­mel­kla­ge zu­sam­men mit ihr ein­kla­gen. Bei nach dem 25.6.​2023 er­ho­be­nen Kla­gen wäre dies eine Kla­ge­häu­fung (§ 260 ZPO), bei schon an­hän­gi­gen Kla­gen wäre an eine nach­träg­li­che Er­wei­te­rung zu den­ken (§§ 263, 260 ZPO). Die MFK wäre ge­gen­über der Leis­tungs­kla­ge keine an­de­re „Pro­zess­art“ (arg. § 610 V ZPO), die mit den Leis­tungs­an­trä­gen ver­bun­de­nen zu­sätz­li­chen Fest­stel­lun­gen ste­hen mit den Fest­stel­lungs­zie­len in einem ­engen Ver­hält­nis (und so­weit dies nicht der Fall wäre, fehlt es an den Vor­aus­set­zun­gen des § 260 ZPO); die ört­li­che Zu­stän­dig­keit wäre idR für die MFK (§ 32c ZPO) und für die Leis­tungs­kla­gen ge­ge­ben (§§ 12, 13 ZPO). Das ein­zi­ge echte Hemm­nis für eine sol­che Ver­bin­dung war die sach­li­che Zu­stän­dig­keit, die für die MFK beim OLG/Ba­yO­bLG an­ge­sie­delt ist (§ 119 III GVG), für die er­gän­zen­den Leis­tungs­an­trä­ge da­ge­gen beim AG oder LG (§§ 23, 71 GVG). Die­ses enge Ver­ständ­nis des § 119 III GVG muss nach dem 25.6.​2023 nicht zwin­gend wei­ter­gel­ten. Auch das Ver­fah­rens­recht kann richt­linienkonform aus­ge­legt wer­den, mög­li­cher­wei­se kann auch auf eine Vor­wir­kung neuen Rechts zu­rück­ge­grif­fen wer­den. Eine An­nex­zu­stän­dig­keit des OLG/Ba­yO­bLG für die eine MFK be­glei­ten­de Leis­tungs­kla­ge er­scheint also denk­bar.

Auch wenn diese Über­le­gung auf den ers­ten Blick kühn an­mu­tet, sie hätte einen ge­wis­sen Charme (ge­habt): Bei der durch Aus­le­gung er­tüch­tig­ten MFK bil­den die Mus­ter­fest­stel­lun­gen die Leit­sät­ze der zu­gleich ent­schie­de­nen Leis­tungs­kla­gen, es wären also echte „Leit­ent­schei­dun­gen“ mög­lich ge­wor­den. Es hätte dann Evo­lu­ti­on vor Re­vo­lu­ti­on ge­gol­ten: Jetzt wird es in Kürze darum gehen, mit einem Ab­hil­fe­grun­d­ur­teil, einem Ab­hil­fe­en­d­ur­teil, einem Um­set­zungs­fonds samt Sach­wal­ter und einem mög­li­chen Er­gän­zungs­ti­tel eine völ­lig neue Form des kol­lek­ti­ven Rechts­schut­zes zu schaf­fen – oder den Streit zu ver­glei­chen.

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Dr. Gregor Vollkommer ist Vorsitzender Richter am OLG München.