Urteilsanalyse
Abberufung des Pflichtverteidigers bei Verweigerung der Verteidigung
Urteilsanalyse
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Die Äußerung eines beigeordneten Rechtsanwalts, wonach die Hauptverhandlung „eine Farce“ sei und weder er noch der Angeklagte sich daher an ihr aktiv beteiligen würden, stellt keine ernsthafte und endgültige Verteidigungsverweigerung dar und rechtfertigt nach Ansicht des OLG Schleswig eine Entpflichtung des Pflichtverteidigers nach § 145 Abs. 1 Satz 1 StPO auch dann nicht, wenn die Verteidigung bei Zeugenvernehmungen tatsächlich auf die Ausübung ihres Fragerechts verzichtet. 

23. Mai 2022

Anmerkung von Rechtsanwalt Dr. Nicolas Böhm, Ignor & Partner GbR, Berlin

Aus beck-fachdienst Strafrecht 10/2022 vom 20.05.2022

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Sachverhalt

Das AG hat A im Zuge seiner Festnahme am 29.6.2021 Rechtsanwalt R als Pflichtverteidiger beigeordnet. Zehn Tage später, am 9.7.2021, hatte sich sodann Rechtsanwalt W als Wahlverteidiger des A legitimiert. Am ersten Verhandlungstag einer umfangreich terminierten Hauptverhandlung nahm R prozessual zulässige Handlungen für A vor, erklärte darüber hinaus aber auch, dass aus seiner Sicht die heutige Hauptverhandlung „eine Farce“ sei und weder er noch A sich daher an ihr aktiv beteiligen würden; insb. werde er bei der beabsichtigten Vernehmung von Zeugen diesen keine Fragen stellen. Daraufhin entpflichtete das LG den R gem. § 145 Abs. 1 Satz 1 StPO mit der Begründung, R habe sich geweigert, die Verteidigung des A zu führen.

Entscheidung

Die mutmaßlich von A gegen die Abberufung des R erhobene sofortige Beschwerde hat das OLG als unbegründet verworfen.

Der R sei im Ergebnis zu Recht entpflichtet worden. Die für diese Entscheidung angeführte Begründung, R habe sich geweigert, die Verteidigung des Angeklagten zu führen (§ 145 Abs. 1 Satz 1 StPO), sei indes nicht tragfähig, denn die Äußerung und das Verhalten des R seien nicht als endgültige Weigerung i.S.d. § 145 StPO anzusehen.

Zum einen handele es sich um Geschehnisse am ersten Verhandlungstag, aus denen keine sicheren Schlüsse hinsichtlich des Verteidigungsverhaltens in seiner Gesamtheit gezogen werden können. Zum anderen könne das Verhalten auch nicht, wie das LG meint, als „in erheblichem Maße prozessordnungswidrig“ bezeichnet werden, welches „den Boden des geltenden Prozessrechts deutlich“ verließe. § 240 Abs. 2 StPO gebe dem Verteidiger und dem Angeklagten nur das Recht, Zeugen und Sachverständige zu befragen, verpflichte sie aber nicht dazu, es auch auszuüben. Seien sich Verteidiger und Angeklagter einig, bestimmten Zeugen an bestimmten Tagen keine Fragen zu stellen, könne dies auch von einem Verteidigungskonzept gedeckt sein. Hierfür könne es prozessual legitime Überlegungen geben und sei es auch nur, dass versucht werde, den Boden für spätere erfolgreiche Revisionsrügen zu bereiten. Bei einer Verteidigung durch mehrere Rechtsanwälte seien zudem Absprachen denkbar, wonach einer der Verteidiger für prozessuale Anträge und der andere für die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Sache verantwortlich sei.

Dass es im Ergebnis dennoch bei der Entpflichtung des R verbleibe, habe, so das OLG weiter, seinen Grund darin, dass bereits zum Zeitpunkt der Anzeige der Verteidigung durch den Wahlverteidiger W die Bestellung des R zum Pflichtverteidiger gem. § 143a Abs. 1 Satz 1 StPO hätte aufgehoben werden müssen. Diese Rechtsfolge sei zwingend und Ausnahmen hiervon (§ 143a Abs. 1 Satz 2 StPO) nicht ersichtlich, zumal A weiterhin von W verteidigt werde.

Praxishinweis

Zum Zwecke der Durchführung der Hauptverhandlung ist durch § 145 StPO eine Einschränkung des Rechts des Beschuldigten auf eine vertrauensgetragene Verteidigung im Normengefüge der Strafprozessordnung institutionalisiert. Will man aber die von einer effektiven Verteidigung abhängige Legitimation des abschließenden Verfahrensergebnisses gewährleisten, darf die Vertrauensbeziehung zwischen Beschuldigtem und Verteidiger nicht ignoriert und der Rechtsbeistand vorschnell entpflichtet werden. Genau darin liegt jedoch die § 145 StPO innewohnende Gefahr, wenn bei einer vermeintlich notleidenden Verteidigung die Bestellung aufgehoben wird. Zu rechtfertigen ist das nur, falls der Beistand aus personenbedingten Gründen dauerhaft ausfällt oder bei Ausnahmesituationen, wie z.B. der evidenten Unfähigkeit zur effektiven Verteidigung. § 145 StPO darf nicht dazu dienen, unter dem Deckmantel der Verfahrenssicherung vermeintlich konfliktfreudige Verteidiger zu disziplinieren oder willkürlich vom Verfahren auszuschließen (Barton, StV 1995, 290, 292). Damit wäre im Spannungsfeld des Strafverfahrens das richterliche Erledigungsinteresse missbräuchlich über das Recht auf eine effektive Verteidigung gestellt und das gesetzliche Regelungskonzept, nachdem pflichtwidriges Verteidigerverhalten abschließend von §§ 138a ff. StPO erfasst wird, ad absurdum geführt. Auch standeswidrige Aktivitäten dürfen daher grundsätzlich nicht über § 145 StPO sanktioniert und die Verteidigung auf diese Weise nicht gemaßregelt werden (LR-Jahn, § 145 Rn. 18).

Insofern ist eine gerichtliche Fremdkontrolle, die – weil nur auf diese Weise das Tatbestandsmerkmal der „Weigerung der Ausübung der Verteidigung“ festzustellen ist – in einem gewissen Rahmen stets sowohl das „Ob“ als auch das „Wie“ der Verteidigung zu bewerten hat, alles andere als unproblematisch. Es ist eben nicht Sache des Gerichts, eine von Vertrauen getragene Beistandsleistung inhaltlich zu beurteilen oder das Verteidigungskonzept von außen zu bestimmen (BGH NStZ 2000, 212, 213). Etwas anderes kann lediglich bei Ausnahmefällen sowohl hinsichtlich des „Ob“ als auch des „Wie“ der Verteidigung gelten. Was das „Ob“ der Verteidigung betrifft, darf zwar keinesfalls allein aus dem Unterlassen einer aus Sicht des Gerichts gebotenen Handlung auf ein Nichtführen der Verteidigung geschlossen werden. Stellt jedoch der Verteidiger faktisch jede Verteidigung ein, indem er sich etwa weigert das Schlussplädoyer zu halten, sich auf die Besucherbänke zurückzieht und der Amtstracht entledigt (BGH StV 1993, 566) ist in letzter Konsequenz eine Abberufung gegen den Beschuldigtenwillen angezeigt. Aber auch das „Wie“ der Verteidigung kann in extrem gelagerten Ausnahmen einer gerichtlichen Prüfung unterzogen werden, wenn etwa das Desinteresse des Verteidigers an einer effektiven Beistandsleistung oder seine Unfähigkeit derart offensichtlich zutage tritt, dass der Rechtsstaat sich nicht bewährt, würde er verhaltens- oder personenbedingten Mängel sehenden Auges hinnehmen (zum Ganzen Böhm, Effektive Strafverteidigung und Vertrauen, Diss. 2020, S. 225 ff.).

Einen solchen Anwendungsfall konnte das OLG vorliegend aber zu Recht nicht erkennen, wenngleich auch der Strafsenat sich nicht in (gebotener) Zurückhaltung übt, wenn er über „prozessual legitime Überlegungen“ für den Verzicht auf das Fragrecht mutmaßt. Dass das OLG die Beschwerde dennoch als unbegründet verwarf und die Entpflichtung anstatt auf § 145 StPO auf § 143a Abs. 1 Satz 1 StPO stützte, ist jedenfalls im Hinblick auf die Entscheidungskompetenz des OLG als Beschwerdegericht nicht zu beanstanden (vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 309 Rn. 3 f.).


OLG Schleswig, Beschluss vom 21.02.2022 - 1 Ws 26/22 (LG Lübeck), BeckRS 2022, 8958