Das Rätsel kriminalistisch zu lösen, gelang auch dem BVerwG nicht. Im Gegensatz zum VG Köln schlossen sich aber die Leipziger Bundesrichter wie schon das OVG Münster dem jungen Mann an und sprachen ihm das begehrte Examen zu. Bereits die nordrhein-westfälischen Richter hatten nicht versucht, Sherlock Holmes nachzueifern, sondern schlicht befunden: Allein durch das von der beklagten Behörde eingeholte Gutachten werde der Täuschungsversuch nicht überzeugend belegt; weitere erfolgversprechende Beweismittel stünden nicht (mehr) zur Verfügung. Das hieraus folgende "non liquet" gehe zu ihren Lasten – auch wenn sie weitere Ungereimtheiten ausgemacht hatte.
Der Nichtzulassungsbeschwerde des Prüfungsamts gegen dieses Verdikt gaben die Bundesrichter keine Chance. Dessen Vorwurf lautete, das Münsteraner Berufungsgericht habe gegen seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verstoßen. Weder habe es zu dem Geschehensablauf noch zu der Identität des unbekannten Dritten eigene Ermittlungen angestrengt. Vielmehr habe der dortige Senat die tatsächlich gegebenen weiteren Erkenntnismöglichkeiten außer Acht gelassen – etwa eine Einvernahme des bei den Klausurterminen eingesetzten Aufsichtspersonals. Stimmt schon, fand man zwar in der sächsischen Metropole: "Das Absehen von einer gebotenen Sachaufklärung mit der Begründung, etwa in Betracht kommende Beweismittel würden voraussichtlich nicht den gewünschten Aufschluss erbringen, stellt eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung und damit eine Verletzung der in § 86 I VwGO geregelten Verpflichtung des Gerichts dar, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen."
Rüffel für die Behördenvertreterin
Doch hielten sie der Rechtsvertreterin der Behörde ein Versäumnis vor: Diese habe in der Berufungsverhandlung keine konkreten Einwände gegen die in den Raum gestellte Beweiswürdigung erhoben. Das genüge nicht den Darlegungsanforderungen an einen Aufklärungsmangel. Denn die Geltendmachung eines Verstoßes verlange nicht nur die schlüssige Darlegung, welche Aufklärungsmaßnahmen das Gericht hätte ergreifen müssen, welche Feststellungen es dabei voraussichtlich getroffen hätte und inwiefern dies zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätte führen können. "Vielmehr muss der Beschwerdeführer zudem darlegen, dass er in der Berufungsverhandlung durch Stellung eines Beweisantrags auf eine bestimmte Sachaufklärung hingewirkt hat oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen aufgrund von dessen materiell-rechtlicher Rechtsauffassung auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen." In aller Deutlichkeit heißt es in dem Leipziger Beschluss: "Die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse in der Tatsacheninstanz zu kompensieren, vor allem wenn der Beschwerdeführer es unterlassen hat, einen Beweisantrag zu stellen."
Der Hinweis, die Sachverhaltswürdigung der Münsteraner Richter verstoße gegen Denk- und Naturgesetze, liegt auf den ersten Blick nicht ganz fern. Doch das BVerwG zog sich auf die im Prozessrecht vorgesehene Kompetenzverteilung zwischen Tatsachengericht und Revisionsinstanz zurück. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung eröffne einen Wertungsrahmen; andere Schlüsse aus dem vorliegenden Tatsachenmaterial änderten daran nichts.
Zudem hätten die Vorderrichter das Ergebnis des Expertengutachtens zu Recht nicht ungeprüft übernommen. Schließlich habe das OVG die Analyse des Schriftkundlers gerade nicht als inhaltlich zutreffend bewertet. "Es hat dessen auf grafologischen Erwägungen beruhendes Resultat, ein unbekannter Dritter habe die Aufsichtsarbeiten verfasst, mit Blick auf den Ablauf der Prüfung und die Personenkontrollen an den Prüfungstagen als nicht überzeugend angesehen", loben die Leipziger die Kollegen. Diese Beweiswürdigung halte sich in dem durch § 108 I 1 VwGO vorgegebenen Wertungsrahmen, "so dass die Rügen aktenwidriger und paradoxer Tatsachenfeststellung ins Leere gehen".
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