Urteilsanalyse
KG: Rechtsprechungsänderung bei sogenanntem qualifiziertem Rotlichtverstoß
Urteilsanalyse
Lorem Ipsum
© Stefan Yang / stock.adobe.com

Allein unter dem Gesichtspunkt, ein Rotlichtverstoß sei nicht "abstrakt gefährlich" gewesen, kann nach einem Beschluss des Kammergerichts nicht vom ansonsten eigentlich indizierten Fahrverbot abgesehen werden. Der Begriff der "abstrakten Gefahr" sei ein Terminus der Rechtsetzung, nicht der Rechtsanwendung. Der Senat hat insofern seine bisherige Rechtsprechung überdacht.

18. Mai 2020

Anmerkung von 
Rechtsanwältin Ruth Anthea Kienzerle, Ignor & Partner GbR, Berlin

Aus beck-fachdienst Strafrecht 10/2020 vom 14.05.2020

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Strafrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Strafrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Strafrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de.

StVG § 25; BKat Nr. 132.3; StVO § 37 II 2 Nr. 1

1. Es verbietet sich, allein unter dem Gesichtspunkt, ein Rotlichtverstoß sei nicht „abstrakt gefährlich", vom indizierten Fahrverbot abzusehen (Aufgabe bisheriger Rechtsprechung, KG VRS 114, 60).

2. Der Begriff der „abstrakten Gefahr" ist ein Terminus der Rechtsetzung, nicht der Rechtsanwendung.

3. Der Anwendungsbereich von Nr. 132.3 BKat kann nicht durch das Erfordernis einer konkret bestimmbaren „abstrakten Gefährlichkeit" reduziert werden, da dies in die Kompetenz des Gesetzgebers eingreift.

4. Unberührt bleibt das Rechtsfolgeermessen des Tatrichters, der im Rahmen der Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalls befugt und veranlasst ist, zu bestimmen, ob das Tatbild vom Durchschnitt in einem solchen Maß abweicht, dass das Fahrverbot unangemessen wäre. (Ls. d. Verf.)

KG, Beschluss vom 14.04.2020 - 3 Ws (B) 46/20 - 122 Ss 18/20, BeckRS 2020, 6531


Sachverhalt

A fuhr über die Haltelinie in den Kreuzungsbereich ein, als die Ampel bereits seit 1,1 Sekunden rotes Licht zeigte. Das AG verurteilte A wegen eines sog. qualifizierten Rotlichtverstoßes zu einer Geldbuße von 250 Euro und verhängte ein Fahrverbot von einem Monat Dauer. Hiergegen wendete sich A mit der Rechtsbeschwerde, in der er die Verletzung von Verfahrensrecht beanstandete und die allgemeine Sachrüge erhob. Der Einzelrichter am KG übertrug die Sache zur Fortbildung des Rechts dem Senat, der in der Besetzung mit drei Richtern entschied.

Entscheidung

Der Senat verwarf die Beschwerde als unbegründet und gab seine bisherige Rechtsprechung auf, wonach die von Nr. 132.3 BKat geforderte „abstrakte Gefährlichkeit" fehle, wenn die Kreuzung im Zeitpunkt des Rotlichtverstoßes für Querverkehr gesperrt ist.

Das AG habe rechtsfehlerfrei abgelehnt, Beweis darüber zu erheben, dass der Querverkehr nicht habe gefährdet werden können, da A den Kreuzungsbereich bei Eintritt der für den Querverkehr geltenden Grünphasen längst verlassen habe. Zwar habe der Senat wiederholt entschieden, dass von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen werden könne, sofern der Rotlichtverstoß mit keiner abstrakten Gefahr verbunden gewesen sei. Insbesondere habe er in verschiedenen Konstellationen eine abstrakte Gefährdung abgelehnt, wenn andere Verkehrsteilnehmer nicht in den geschützten Kreuzungsbereich eindringen durften, weil die Gegenverkehrsspuren und Fußgängerfurten gesperrt waren (KG VRS 119, 48; VRS 129, 328; noch weitergehend KG VRS 114, 60). Der Senat habe bisher überwiegend darauf abgestellt, dass die Anwendung einer greifbaren „abstrakten Gefährlichkeit" bedürfe. An dieser Rechtsprechung halte er aber nicht fest. Es verbiete sich aus Rechtsgründen, unter dem Gesichtspunkt, ein Rotlichtverstoß sei nicht „abstrakt gefährlich", vom Fahrverbot abzusehen. Eine dahingehende Beweisaufnahme sei folglich nicht veranlasst, weshalb der Beweisantrag rechtsfehlerfrei abgelehnt worden sei.

Der Verordnungsgeber habe die Missachtung einer bereits eine Sekunde lang rot leuchtenden Ampel als abstrakt so gefährlich angesehen, dass er ihr die Regelahndung mittels Fahrverbots zugewiesen habe. Es sei unzulässig, diese Rechtssetzung dadurch zu unterminieren, dass es dem Tatrichter ermöglicht oder aufgegeben werde, die Tat trotz Tatbestandserfüllung danach zu würdigen, ob sie abstrakt gefährlich sei. Der Terminus „abstrakte Gefahr" sei ein solcher der Rechtssetzung und nicht der Rechtsanwendung. Es obliege dem Gesetzgeber, bestimmte Verhaltensweisen unabhängig vom Eintritt einer konkreten Gefahr unter Strafe zu stellen. Der Rechtsprechung sei es untersagt, diese (Vor-)Bewertung zu unterlaufen, indem sie einer tatbestandsmäßigen Handlung die abstrakte Gefährlichkeit abspreche. Der Anwendungsbereich von Nr. 132.3 BKat könne daher nicht mit dem Erfordernis einer konkret bestimmbaren abstrakten Gefährlichkeit reduziert werden, da dies systematisch unzulässig in die gesetzgeberische Kompetenz eingriffe. Auch auf der Rechtsanwendungsebene gehe das fehl, da die Gefährlichkeit des Rotlichtverstoßes nicht allein aus der Möglichkeit der Gefährdung von kreuzendem Verkehr folge.

An Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung schließe sich der Senat daher dem BayObLG an, demnach im Falle eines qualifizierten Rotlichtverstoßes eine abstrakte Gefährdung zu unterstellen und es nicht zulässig sei, Handlungen, die im konkreten Fall ungeeignet sind das geschützte Rechtsgut in Gefahr zu bringen, vom Bußgeldtatbestand auszunehmen.

Dies berühre indes das Rechtsfolgeermessen des Tatrichters nicht. Dieser habe weiterhin im Rahmen der Gesamtwürdigung zu bestimmen, ob das Tatbild, bei dem das Gefährdungsmaß als Erfolgsunrecht ein wichtiger Bestandteil sei, vom Durchschnitt in solchem Maß abweicht, dass das Fahrverbot unangemessen wäre. Sei jede konkrete Gefährdung ausgeschlossen, könne dies Anlass geben, das Regelfahrverbot auf seine Erforderlichkeit zu prüfen. Im Grundsatz unzulässig sei es aber, allein aus dem Umstand, dass auch der Querverkehr zum Zeitpunkt des Verstoßes noch wartepflichtig gewesen sei, die abstrakte Gefährlichkeit der Tat in Frage zu stellen und von einem Fahrverbot abzusehen. Die abstrakte Gefährlichkeit sei kein Tatbestandsmerkmal, sodass es im Regelfall weder der Aufklärung noch Mitteilung der Ampelschaltung bedürfe.

Praxishinweis

Die Frage, ob der Ordnungswidrigkeit eines qualifizierten Rotlichtverstoßes die von Nr. 132.3 BKat vorausgesetzte abstrakte Gefährlichkeit fehlen kann, ist in Literatur und obergerichtlicher Rechtsprechung seit langem höchst umstritten. Auch die Rechtsprechung des Senats war, wie dieser selbst ausführt, in ihrer Reichweite nicht einheitlich. Insbesondere an seiner weitreichendsten Entscheidung hält der Senat nun ausdrücklich nicht mehr fest. In dem Beschluss vom 20.8.2007 (BeckRS 2008, 13367) hatte der Senat noch formuliert, ein besonderer schwerwiegender Rotlichtverstoß liege nicht vor, da abstrakte Gefährdungen anderer Verkehrsteilnehmer dem Urteil nicht zu entnehmen seien. Nun gibt der Senat seine bisher überwiegende Auffassung, dass auch bei tatbestandsmäßigem Handeln eine abstrakte Gefährdung Dritter im konkreten Fall ausgeschlossen sein kann, auf, und schließt sich dem BayObLG (NZV 1997, 484; NZV 2003, 346) an. Das überzeugt. Die typisierende Festlegung des Verordnungsgebers hat zur Folge, dass eine abstrakte Gefährdung stets zu unterstellen ist. Andernfalls wäre die Frage der abstrakten Gefährdung quasi zum von Amts wegen aufzuklärenden ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal geworden, mit der Folge, dass stets ausdrückliche Urteilsfeststellungen zur Frage der abstrakten Gefährdung Dritter durch den qualifizierten Rotlichtverstoß notwendig, bzw. jedenfalls dann Feststellungen zu treffen sind, wenn Umstände einer abstrakten Gefährdung anderer entgegenstehen. Auch bei § 316 StGB ist der Rechtsanwender aber nicht zur Prüfung der abstrakten Gefährlichkeit eines objektiv ungefährlichen Tatgeschehens aufgerufen.