NJW-Editorial
15 Jahre Rückstand
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Die im Juni 2022 erschienene Studie "The Future of Digital Justice" (BCG, Bucerius Law School und Legal Tech Verband Deutschland) hat ein höchst beunruhigendes Ergebnis erbracht: Im Vergleich zu den "digitalen Vorreiterstaaten" Singapur, Kanada, dem Vereinigten Königreich und Österreich liegt die deutsche Justiz in Digitalisierungsfragen zehn bis 15 Jahre zurück. Angesichts der exponentiellen Entwicklung der Digitaltechnologie ist dieser Rückstand gigantisch.

8. Sep 2022

Zur Einordnung: 15 Jahre sind seit der Vorstellung des ersten Smartphones vergangen! Nun ist es ein Trugschluss zu glauben, dass Deutschland diesen Rückstand in den nächsten 15 Jahren automatisch aufholen würde – im Gegenteil: Selbst wenn die deutsche ­Justiz ab jetzt das hohe Digitalisierungstempo der Vorreiterstaaten mitgehen würde, bedeutete dies nur, dass der Rückstand gleich bleiben würde.

Dieser Rückstand hat handfeste Auswirkungen, die die Qualität und sogar die Funktions­fähigkeit der deutschen Justiz ernsthaft infrage stellen werden. Während hierzulande noch bis 2026 die elektronische Akte eingeführt werden soll, die letztlich nur ein Ablagesystem für PDF-Dateien mit Unterstützungsfunktionen ist, arbeiten die Vorreiterstaaten teilweise heute schon mit maschinenlesbaren (strukturierten) Sachverhalts­daten. Ein solches datenbasiertes Zivilverfahren erlaubt eine viel intensivere maschinelle Unterstützung der gerichtlichen Tätigkeit. Zugleich wird dabei ein wahrer Datenschatz generiert, auf dessen Grundlage IT-Systeme mithilfe Künstlicher Intelligenz aus bisherigen Vorgängen „lernen“ und Bearbeitungsvorschläge unterbreiten können. Einen solchen Datenschatz wird die deutsche Justiz auf absehbare Zeit nicht besitzen, so dass auch entsprechende digitale Unterstützungswerkzeuge nicht entwickelt werden können. Pensionierungswelle und geburtenschwache Jahrgänge werden die Justizsysteme aller Länder aber zeitgleich treffen. Dann kommt es darauf an, welches Justizsystem über die Werkzeuge verfügt, um trotz Personalmangels seine Qualität halten zu können. Die Ergebnisse der Studie und die bisherigen Planungen zu einer bloßen kleinschrittigen Digitalisierung des klassischen Zivilverfahrens lassen für die deutsche ­Justiz Schlimmes befürchten.

Daher gilt: Die Digitalisierung der deutschen Justiz muss auf die Überholspur! Und das durchaus wörtlich: Die bereits vorliegende Idee eines beschleunigten Online-Verfahrens sollte zu einer „zweiten Spur“ des Zivilprozesses weiterentwickelt werden. Konzipiert als volldigitales, auf der Basis strukturierter Verfahrensdaten geführtes Verfahren könnte es optimale maschinelle Unterstützung für die richterliche Tätigkeit bieten. Ausgehend von einfachen Sachverhalten (z.B. Fluggastrechte) würde es neben den klassischen Zivilprozess treten und schrittweise auf andere standardisierbare Fälle ausgedehnt werden, bis es schließlich das Regelverfahren für Massensachverhalte würde. Im zweispurigen Zivilprozess liegt die digitale Zukunft.

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Prof. Dr. Thomas Riehm ist Inhaber des Lehrstuhls für Privatrecht, Zivilverfahrensrecht und Rechtstheorie sowie Sprecher des Instituts für das Recht der Digitalen Gesellschaft (IRDG) der Universität Passau.