Von Prof. Dr. Florian Matthes, Inhaber eines Lehrstuhls für Software Engineering betrieblicher Informationssysteme
Im Juli 2024 wurde erstmalig ein „Legal AI Use Case Radar 2024“ veröffentlicht. Es stammt von einem interdisziplinären Forschungsteam der TU München und gibt einen Überblick darüber, wie Künstliche Intelligenz im Rechtswesen unterstützt. Fragen dazu an den Leiter des Projekts, Prof. Dr. Florian Matthes, Inhaber eines Lehrstuhls für Software Engineering betrieblicher Informationssysteme.
RDi: Wie nutzen Juristen nach Ihrer Erhebung in ihrem beruflichen Alltag KI?
Matthes: Das wesentliche Ergebnis ist aus Sicht der Forschung ein wenig ernüchternd. Denn die Befragten, darunter auch die Anwälte in Großkanzleien und General Counsel, nutzen die Tools im Wesentlichen als persönliche Assistenten. Dabei verwendet der Großteil OpenAI ChatGPT, entweder direkt oder über die MS-Azure-Instanzen. Anders als in anderen Bereichen außerhalb der Juristerei, werden also nicht einzelne Prozessschritte automatisiert, um Geschäftsprozesse zu unterstützen. Stattdessen werden die KI-Tools zunehmend zur Automatisierung sich wiederholender Teile der täglichen Arbeit genutzt, wie dem Verfassen von E-Mails, dem Fristenmanagement oder der Suche nach bestimmten Gerichtsurteilen und das in Kombination mit klassischer Software, zum Beispiel Word. Deswegen finden wir in den acht allgemeinen Kategorien des Radar-Diagramms dieselben Tools und insgesamt 34 verschiedene Anwendungsfälle. Diese sind nach ihrer Relevanz für die juristische Arbeit, dem Grad des Interesses in der akademischen Forschung, ethischen Bedenken und der Anzahl der Erwähnungen in unseren Erfahrungsberichten (Interviews mit Rechtspraktikern) geordnet.
RDi: Was sind die neuesten und innovativsten Anwendungsfälle für KI im deutschen Rechtsraum?
Matthes: Der Großteil der Anwender beschränkt sich auf die direkte Nutzung der KI als persönlicher Assistent (Chatbot) zur automatischen Generierung von Dokumenten (zum Beispiel Mandantenkorrespondenz), zur Zusammenfassung und Übersetzung von Dokumenteninhalten und zur Beantwortung von Rechtsfragen. Einige größere Organisationen beginnen jetzt aber schon, den Large Language Models durch „Retrieval Augmented Generation“ (RAG) Zugriff auf bestehenden eigene Wissensdatenbanken zu geben, um die Qualität der Antworten zu verbessern. Das können interne Dokumente sein, die viele Kanzleien besitzen, etwa Fallsammlungen, Musterdokumente, historische Verträge, größere Datenbanken oder eigene Wikis. Das ist innovativer als die direkte Nutzung des Modells. Da auch LLMs mit RAG noch nicht so gut sind, müssen Juristen die Ergebnisse kritisch prüfen (human in the loop).
RDi: Was sind weitere zentrale Erkenntnisse aus Ihrem Radar?
Matthes: Zunächst einmal, dass bei den befragen Unternehmen noch keine systematische bzw. formalisierte Qualitätskontrolle der Modelle stattfindet (precision/recall). Dazu fehlen Testdaten, und juristische Fragestellungen können oft nicht zum Beispiel mit Ja / Nein, schuldig / nicht schuldig beantwortet werden und längere Begründungen sind schwer zu vergleichen. Außerdem haben wir eine große Diskrepanz zwischen den in der internationalen Forschung untersuchten Anwendungsfällen (vertikal, tief) und dem aktuellen praktischen Einsatz von AI (horizontal, flach) festgestellt. Eine weitere zentrale Erkenntnis ist, dass KI-Werkzeuge noch nicht in die IT-Landschaften der Kanzleien integriert sind. Die Anwender erwarten hier Lösungen.
RDi: Welche Rolle spielt der Datenschutz?
Matthes: Auch wenn sich alle Befragten einig sind, dass Datenschutz wichtig ist, herrscht Uneinigkeit bezüglich der Umsetzung. Es scheint zwei Lager zu geben: Einmal diejenigen, die alle Register ziehen wollen (on-premise-deployment der Modelle/Lösungen, nur anonymisierte Daten eingeben etc.) und diejenigen, die meinen, dass sie die Dokumente, wenn sie sie ohnehin im MS-SharePoint ablegen, auch für ChatGPT nutzen können.
RDi: Welche Entwicklung prognostizieren Sie für KI im Rechtsmarkt?
Matthes: Ich erwarte nicht, dass es ein überlegenes souveränes deutsches LLM geben wird. Aber KI wird auf dem Rechtsmarkt weiterhin zunehmend von Anwaltskanzleien, öffentlichen Einrichtungen und Start-ups genutzt werden. Vor allem generative Anwendungen, wie die Generierung von Dokumenten, die Beantwortung von Fragen, die Übersetzung oder die Vereinfachung, haben ein hohes Potenzial. Viele Nutzer werden auch versuchen, KI-Lösungen lokal einzusetzen, ohne auf externe Anbieter angewiesen zu sein, neue kommentierte Trainingsdaten zu erzeugen und Juristen in den Prozess der Modellgestaltung einzubeziehen. Wir werden die Entwicklung mit unserem Legal AI Use Case Radar begleiten und nachbilden.