Von Prof. Dr. Gerhard Wagner, LL.M. (University of Chicago), ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Ökonomik an der Humboldt-Universität zu Berlin
Wieder einmal ist nach der Reform zugleich vor der Reform. Kaum ist die KI-Verordnung in Kraft getreten, steht die KI-Haftungsrichtlinie wieder auf der Tagesordnung. Ihr Entwurf war von der EU-Kommission im September 2022 zusammen mit dem Vorschlag zur Reform der Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG vorgelegt worden. Während Letztere in Rekordzeit noch Ende 2023 beschlossen werden konnte, wurde der Entwurf der Richtlinie über KI-Haftung zunächst zurückgestellt, weil er eng mit der KI-VO verzahnt ist.
Nun wird das Dossier wieder aufgegriffen. Auf den ersten Blick ein konsequenter Schritt. Die Kombination von Regulierung ex ante (KI-VO) und Haftung ex post (KI-Haftungsrichtlinie) ist ein im Binnenmarkt bewährtes Muster der Verhaltenssteuerung. Die Zweispurigkeit von Produktsicherheits- und Produkthaftungsrecht nutzt die Ressourcen privater und behördlicher Rechtsdurchsetzung. Der Einsatz des Haftungsrechts sichert zudem die Kompensation der Opfer solcher Risiken, die das Regulierungsrecht übersehen oder sein Adressat fehlgesteuert hat.
Die Hersteller von KI sind zwar bereits nach der reformierten Produkthaftungsrichtlinie für Fehler verantwortlich, doch der sachliche Schutzbereich der Produkthaftung ist auf Verletzungen der Rechtsgüter Leben, Gesundheit und Eigentum beschränkt und klammert reine Vermögensschäden und Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus. KI-bedingte Diskriminierungen beispielsweise werden nicht erfasst. Diese Lücke schließt wiederum das nationale Haftungsrecht. Genau hier will der Entwurf der KI-Haftungsrichtlinie ansetzen und der nationalen Verschuldenshaftung drei Regelungselemente einpflanzen: (1) Anspruch auf Zugang zu Beweismitteln in der Sphäre des Anbieters eines Hochrisiko-KI-Systems; (2) Verschuldensvermutung bei Nichterfüllung dieses Anspruchs; (3) Vermutung der Kausalität des Verschuldens des Anbieters für den Output des KI-Systems.
Ist das zur erfolgreichen Haftungsbegründung tatsächlich erforderlich? Der Pflichtenkatalog der KI-VO lässt sich über § 823 II BGB in Schutzgesetze und darüber hinaus in Verkehrspflichten zum Schutz der Rechtsgüter des § 823 I BGB, einschließlich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, ummünzen. Speziell für Diskriminierungsschäden tritt die Haftung aus §§ 15, 21 AGG hinzu, bei der das Verschulden des Benachteiligenden vermutet wird und das Vorbringen „nicht ich, sondern die KI war’s“ kein Entlastungsgrund ist. Die Richtlinie über KI-Haftung fügt diesen verhältnismäßig klaren und gut verstandenen Vorschriften, die in ähnlicher Form auch in anderen Mitgliedstaaten existieren, eine hoch komplexe Regelung hinzu, die auf die Vermutung hinausläuft, dass der „Output“ eines KI-Systems auf einer Pflichtverletzung seines Anbieters beruht. Den europäischen Gerichten ist zuzutrauen, dass sie von alleine darauf kommen. Und den Opfern von Diskriminierung wäre zu raten, sich besser auf die Vermutungsregeln des AGG zu stützen als auf die komplizierten Mechanismen einer KI-Haftungsrichtlinie. Sie wird nicht gebraucht.