Seit vielen Jahren wird über den Zivilprozess der Zukunft diskutiert. Der Digitalisierungsdruck bringt Bewegung in die Sache. Eine Reformkommission soll sich in Kürze der Sache annehmen. Die Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte hat hierzu schon Vorschläge unterbreitet. Die Präsidentin des OLG Celle, Stefanie Otte, erläutert sie.
RDi: Es gibt zahlreiche Vorschläge, wie der Zivilprozess optimiert und digitalisiert werden könnte. Was wäre aus Ihrer Sicht besonders wichtig?
Otte: Ausgangspunkt der Überlegungen sollte ein erleichterter, sicherer und bundesweit einheitlicher elektronischer Zugang der Bürgerinnen und Bürger zur Ziviljustiz in Form eines Justizportals sein. Es sollte sämtliche digitalen Angebote der Justiz integrieren, insbesondere das Online-Mahnverfahren, das beschleunigte Online-Verfahren, die „digitalen Rechtsantragstellen“ und die Möglichkeit zur Teilnahme an einer Videoverhandlung.
RDi: Sie haben das beschleunigte Online-Verfahren angesprochen. Dazu gibt es ein Projekt beim Bundesjustizministerium. Wie ist Ihre Vorstellung davon?
Otte: Das Online-Verfahren sollte als zusätzliche Option in der ZPO verankert werden. Dabei wäre auch an einen umfassenden Streitbeilegungsansatz entsprechend dem kanadischen System zu denken. Dort könnte die antragstellende Person KI-gestützt per Chatbot mit Audio- und Videoerläuterungen auch in einfacher Sprache angeleitet werden, ihre Angaben zum Anspruch strukturiert einzugeben. Diese strukturierten Eingaben würden einer KI-gestützten Schlüssigkeitsprüfung unterzogen, auf deren Basis zunächst – automatisiert und online – versucht würde, eine einvernehmliche Lösung mit der Gegenseite zu vermitteln. Bei Scheitern des Vermittlungsversuchs käme die Abgabe an das örtlich zuständige, reale Gericht zur streitigen Fortsetzung in Präsenz in Betracht. Denkbar wäre auch die Schaffung eines vorläufigen Titels zum Abschluss des Online-Verfahrens, ähnlich dem Mahnverfahren.
RDi: Alle Welt redet gerade über KI. Welches Potenzial hat die Technologie für den Zivilprozess?
Otte: Die potenziellen Einsatzgebiete sind vielfältig. Beispielsweise könnte die Prüfung und Bewilligung von Beratungshilfe und PKH weitgehend KI-gestützt erfolgen. Viel Potenzial hat auch der Einsatz algorithmischer Expertensysteme in allen Bereichen, in denen kein Bewertungs- oder Ermessensspielraum besteht, sondern eine bestimmte Entscheidung folgt, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Das könnte etwa der Fall bei Vorprüfungen im Grundbuch- und Registerrecht, der Kostenfestsetzung in Standardfällen und dem Erlass von Pfändungs- und Überweisungsbeschlüssen sein. Wichtig ist ein sicherer Rechtsrahmen für den Einsatz von KI-Assistenzsystemen und für das KI-Training mit Justizdaten. Der Kernbereich der richterlichen Tätigkeit ist und bleibt verfassungsrechtlich vom Einsatz von KI ausgenommen.
RDi: Bevor sich die Aufmerksamkeit auf KI richtete, war Cloud Computing ein heißes Thema. Auch das hat Potenzial für den Zivilprozess, oder?
Otte: Der Zivilprozess der Zukunft sollte eine Justiz-Cloud als digitalen Arbeitsraum vorsehen. Jedes Verfahren hat dort seinen eigenen digitalen Arbeitsraum, in dem gemeinsam an Dokumenten gearbeitet werden kann. So entfallen Versandprozesse und Empfangsbestätigungen, alle Beteiligten haben jederzeit Zugriff auf den aktuellsten Stand.
RDi: Wie optimistisch sind Sie, was die Umsetzung betrifft?
Otte: Die Bereitschaft zur innovativen Weiterentwicklung des Zivilprozesses ist groß. Manche der Reformvorschläge werden natürlich kontrovers diskutiert. Um ihnen dennoch eine Chance zu geben, wären Experimentier- und Öffnungsklauseln hilfreich, um neue Ideen bei der Verfahrensführung ausprobieren zu können. Die gesetzlichen Grundlagen für solche Klauseln sind weit zu ziehen.
RDi: Wie geht es denn jetzt weiter?
Otte: Es gibt vielfältige erfreuliche Entwicklungen an ganz verschiedenen Stellen. Eine zentrale Rolle wird die Arbeit der von den Justizministerinnen und -ministern beschlossenen Reformkommission spielen. Es ist wichtig, dass die Kommission einen umfassenden Blick auf die ZPO einschließlich der benachbarten Verfahrensordnungen wirft und eine Anpassung der Vorschriften allgemein an den elektronischen Rechtsverkehr diskutiert. Hierzu hat gerade eine von den Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs initiierte Veranstaltung in Düsseldorf stattgefunden, deren Ergebnisse im Mai präsentiert werden.