Von Prof. Francesco Paolo Patti und Prof. Filippo Annunziata,
Während Deutschland im Rahmen des Zukunftsfinanzierungsgesetzes über die
Erweiterung des eWpG auf Aktien diskutiert, ist in Italien bereits ein „Decreto-
Legge“ in Kraft getreten, das für den Krypto-Bereich Neuerungen bringt.
Hierzu haben wir die Professoren Francesco Paolo Patti und Filippo Annunziata
von der Universität Bocconi in Mailand befragt.
RDi: Welche Rechtsänderungen bringt das neue Gesetzesdekret
Patti/Annunziata: Das Gesetzesdekret („Decreto-Legge“) Nr. 23 vom 17.3. 2023 führt mit sehr innovativen Bestimmungen eine allgemeine Regelung der Tokenisierung von Finanzinstrumenten und anderen Vermögenswerten in das italienische System ein. Das Dekret nimmt wesentliche Änderungen an jenen Vorschriften vor, die traditionell die Ausgabe und den Umlauf von Finanzinstrumenten regeln. Es führt ein alternatives Modell zum traditionellen, bis in die 1980 er Jahre zurückreichenden System der Dematerialisierung und der zentralen Verwaltung ein. Die neue Regelung basiert auf DLT-Registern, deren Einrichtung der Verantwortung qualifizierter Personen anvertraut wird: Dies sind die in der europäischen DLT-Pilotregelung genannten Personen (tradingvenues-Betreiber oder Zentralverwahrer), zu denen der Emittent selbst oder auch Dritte, die sich in eine von der Consob geführte Liste eintragen müssen, hinzugefügt werden können. Das Dekret wurde dazu erlassen, um die Umsetzung der DLT-Pilotregelung (EU-Verordnung Nr. 858/ 2022) zu ermöglichen. Es hat aber einen viel breiteren Anwendungsbereich, weil es für Instrumente allgemeiner Art ein Tokenisierungssystem einführt und auch für zukünftige Erweiterungen offen ist. Insbesondere ist der Anwendungsbereich weiter gefasst, weil er auch Instrumente erfasst, die weder der Pilotregelung noch der MiFID unterfallen.
RDi: Können Sie uns die Entstehung des neuen Rechtsakts schildern? Wie lange wurde darüber beraten? Welche Rechtsqualität hat ein „Decreto-Legge“?
Patti/Annunziata: Der Verabschiedung des Dekrets ging eine umfassende Untersuchung voraus, die im Januar 2023 veröffentlicht wurde. Anschließend wurde die Regelung jedoch in kurzer Frist mit Hilfe eines im Finanzmarktrecht ungewöhnlichen Instruments verabschiedet: Die italienische Verfassung erlaubt es der Regierung, unter außergewöhnlichen Umständen Dekrete zu erlassen, die vorübergehend dieselbe Wirkung wie gewöhnliche, vom Parlament verabschiedete Gesetzesmaßnahmen entfalten. Es handelt sich um eine besondere Befugnis, die auf Situationen von außerordentlicher Dringlichkeit und Notwendigkeit beschränkt ist. Das von der Regierung verabschiedete Dekret muss außerdem innerhalb von 60 Tagen vom Parlament in ein ordentliches Gesetz umgewandelt werden. Im vorliegenden Fall ergibt sich die Dringlichkeit, die den Erlass des Dekrets rechtfertigte, aus der Notwendigkeit, zur Umsetzung der DLT EU-Pilotregelung den italienischen Rechtsrahmen zu vervollständigen. Der endgültige Gesetzestext steht daher erst nach der (möglichen) Überführung des Dekrets in ein Gesetz fest. Sie muss ggf. bis zum 16.5. 2023 erfolgen.
RDi: Wie breit ist der Anwendungsbereich? Geht es nur um elektronische Aktien, oder auch um die Tokenisierung
sonstiger Vermögensgegenstände?
Patti/Annunziata: Das Dekret deckt eine breite Palette von Finanzinstrumenten ab und beschränkt sich regelungstechnisch nicht nur auf elektronische Aktien. Es findet Anwendung auf (1.) Aktien, die von Aktiengesellschaften (Società per azioni, SPA) ausgegeben werden; (2.) Obligationen, die von Aktiengesellschaften ausgegeben werden; (3.) Schuldverschreibungen, die von Gesellschaften mit beschränkter Haftung (Società a responsabilità limitata, SRL) ausgegeben werden; (4.) sonstige Schuldverschreibungen, deren Ausgabe nach italienischem Recht zulässig ist; (5.) Hinterlegungsscheine für Obligationen und andere Schuldverschreibungen gebietsfremder Emittenten, die von italienischen Emittenten ausgegeben werden; (6.) Geldmarktinstrumente, die im italienischen Recht geregelt sind; (7.) Aktien oder Anteile von italienischen Organismen für gemeinsame Anlagen.
Darüber hinaus sieht das Dekret die Möglichkeit einer künftigen Ausweitung auf weitere Instrumente vor. Sie erfolgt durch die Aufsichtsbehörde Consob, der eine sehr weitreichende Befugnis zuerkannt wird, von allgemeinen
gesetzlichen Bestimmungen, wie sie beispielsweise im Zivilgesetzbuch für die verschiedenen Arten von Unternehmensbeteiligungen festgelegt sind, abzuweichen.
RDi: Wie spielt die Neuregelung mit der europäischen MiCAR-Verordnung zusammen? Ist der zeitliche Zusammenhang mit der Verabschiedung dieser Verordnung Zufall?
Patti/Annunziata: Das Dekret ist zum Zwecke der Umsetzung der DLT-Pilotregelung erlassen worden. Es hat einen weiten Anwendungsbereich, der Vermögenswerte betreffen kann, die auch von der MiCAR-VO erfasst sind. In diesem Sinne wirft das Verhältnis zwischen dem Dekret und der künftigen europäischen Verordnung komplexe Anwendungs- und Auslegungsfragen auf. Bestimmte Arten von Instrumenten, die sich im Katalog des Dekrets finden, können von der breiten, von der MiCAR-VO regulierten Kategorie der Kryptowährungen erfasst. In diesem Fall müssten sich italienische Emittenten an die strengen Emissions- und Transfervorschriften des Gesetzesdekrets anpassen. Somit zeichnet sich ein duales System für die Ausgabe und Übertragung von digitalen Vermögenswerten ab, die der MiCAR-VO unterliegen. Ohne weitere regulatorische Eingriffe wird es möglich sein, einige Kryptowerte wie Utility-Tokens über öffentliche DLTs auszugeben und in Umlauf zu bringen, während die im – von der Consob noch erweiterbaren – Katalog des Dekrets genannten Instrumente den Vorschriften des Dekrets unterliegen.
RDi: Wie beurteilen Sie die Neuregelungen aus Sicht der Krypto-Praxis? Gibt es Kritik, gibt es Defizite?
Patti/Annunziata: Die neue Maßnahme stellt das italienische Recht auf eine Stufe mit anderen wichtigen EU Rechtsordnungen, die in den letzten Jahren durch Regelungen zur Tokenisierung von Finanzinstrumenten oder anderen Vermögenswerten ergänzt wurden. Es handelt sich daher um eine wichtige gesetzgeberische Neuerung, die es ermöglicht, die Bestimmungen der DLT-Pilotregelung in konkrete Marktinitiativen umzusetzen und sich auf das Inkrafttreten der MiCAR-VO vorzubereiten. Die Bestimmungen können auch als Grundlage für die Entwicklung innovativer Projekte sowohl innerhalb als auch außerhalb der DLT-Pilotregelung dienen, da sie die Vorteile des Sandbox Systems nutzen können. Allerdings wirft das Dekret auch zahlreiche Auslegungsfragen auf, die klärungsbedürftig sind. So muss beispielsweise die Taxonomie des Dekrets im Hinblick auf die Begriffe der MiFID und der DLT-Pilotregelung einerseits und MiCAR-VO andererseits besser definiert werden. In Italien gibt es seit vielen Jahren auch den Begriff des Finanzprodukts, der den Anwendungsbereich der nationalen Vorschriften über öffentliche Angebote abgrenzt: Dieser Begriff des Finanzinstruments ist weiter gefasst als der MiFID-Begriff. In jüngster Zeit ist der italienische Kassationsgerichtshof in zwei aufeinanderfolgenden Urteilen zu dem Schluss gekommen, dass Bitcoin unter bestimmten Bedingungen als Finanzprodukt eingestuft werden kann, und dass sein Angebot an italienische Anleger daher die Pflicht zur Veröffentlichung eines Prospekts nach nationalen Regelungen nach sich ziehen kann. Obwohl diese Entscheidungen umstritten sind, weisen sie auf ein wichtiges Merkmal der italienischen Regelung hin, die sich an den Kategorien des EU-Rechts orientiert. Der Erlass des Dekrets und das anschließende Inkrafttreten der MiCAR-VO werfen die Fage auf, ob die nationalen Vorschriften über öffentliche Angebote von Finanzprodukten weiterhin für tokenisierte Vermögenswerte gelten.
RDi: Andere europäische Länder haben schon vor Längerem Regelungen zu Krypto-Assets eingeführt, vor allem die Schweiz und Liechtenstein. Welche Rechtsordnung dient aus Ihrer Sicht am ehesten als Vorbild?
Patti/Annunziata: Es gibt mindestens zwei erwähnenswerte Aspekte. Der erste ist, dass die jüngsten technologischen Innovationen und Veränderungen, insbesondere im Bereich der Distributed- Ledger-Technologie, zu weitreichenden Änderungen der traditionellen Vorschriften führen, die in den Mitgliedstaaten die Ausgabe und den Umlauf von Kapitalinstrumenten regeln. Die grundlegenden Regelungen für diese Instrumente sind natürlich fest im nationalen Gesellschaftsrecht verankert, jedoch fördert die technologische Innovation offensichtlich einen Prozess der Standardisierung der Ausgabe- und Umlauftechniken dieser Instrumente, sofern sie auf DLT basieren. Ein zweiter Aspekt ist die auf dem Vorhandensein von Zentralverwahrern basierende Umwandlung traditioneller Dematerialisierungsregelungen für Finanzinstrumente in DLT-basierte Regelungen. Obwohl im Rahmen der DLT Pilotregelung auch Zentralverwahrer als Träger von Systemen der Tokenisierung von Vermögenswerten fungieren können, erfolgen die Änderungen im gleichen konzeptionellen Rahmen wie traditionelle Dematerialisierung, die sich auf centralized securities depositories und auf das Kontoführungssystem, das sich auf solche Lösungen stützt, konzentriert. Gleichzeitig führt – zumindest bis heute – die Verwendung von auf gemeinsame Register basierten Technologien (DLT) nicht zur Entstehung von wirklich dezentralisierten Dienstleistungsmodellen, da sogar das italienische Gesetzesdekret auf das Vorhandensein eines Subjekts aufbaut, das das Register selbst verwaltet, und verschiedenen Formen der Kontrolle und Überwachung sowie spezifischen Haftungsregelungen unterliegt. Diese Beobachtung gilt selbst für den Fall, dass derselbe Emittent als Verwalter des Tokenisierungsregisters fungiert, wobei in diesem Fall die durch das Dekret eingeführte Regelung jene traditionelle Beziehung zwischen Emittent und Zentralverwahrer nach den typischen Regelungen, wie sie auch in der EU-Verordnung Nr. 909/2014 zu finden sind, radikal verändert. Die italienische Regelung ist nicht von einem der in anderen Ländern bereits vorgesehenen Systemen besonders beeinflusst worden. Zweifellos wurden diese anderen Systeme bei den vorbereitenden Arbeiten berücksichtigt, aber das Interesse des italienischen Gesetzgebers scheint sich darauf zu konzentrieren, die Kohärenz der DLT-Pilotregelung mit dem nationalen Regulierungssystem sicherzustellen. Auch in dieser Hinsicht können sich im Zusammenhang mit der Abgrenzung der Anwendungsbereiche Fragen ergeben, die sich negativ auf den Prozess der Harmonisierung des europäischen Rechts auswirken könnten.