Von Dr. Sebastian Hallensleben, Head of Digitalisation & AI beim VDE e.V. und Chair der europäischen KI-Standardisierung bei CEN-CENELEC
Zertifizierung ist eigentlich eine feine Sache: eine neutrale, fachlich kompetente Institution bescheinigt, dass ein Produkt bestimmte Standards erfüllt – seien es beispielsweise Standards für elektrische Funktionsfähigkeit, für technische Passfähigkeit, für Qualität oder für Cybersicherheit. Es genügt in vielen Fällen nicht, dass ein Hersteller selbst behauptet, seine Produkte würden diese oder jene Standards einhalten. Wenn es um hohe Risiken oder um hochpreisige Produkte geht, greift man seit vielen Jahrzehnten gerne auf Zertifizierungen zurück.
Umso erstaunlicher ist es, dass derzeit eine große Angst umgeht: die Angst vor der Zertifizierung von KI. Angeblich droht hier ein schlimmes Innovationshemmnis, es droht Red Tape und der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit, bevor die europäische Industrie überhaupt eine Chance hatte, mit China und den USA gleichzuziehen.
Man könnte bisweilen sogar den Eindruck bekommen, dass ein genauer Blick auf die Eigenschaften und die Qualität von KI-Produkten gar nicht unbedingt gewollt ist, zumindest nicht bei Akteuren aus der Fraktion „Move Fast and Break Things“. Wer es gewohnt ist, halbfertige Produkte in den globalen Markt zu drücken, die erst im laufenden Betrieb von Update zu Update reifen, für den ist eine Zertifizierung lästig. Da verlässt man sich lieber darauf, dass die eigene Marketingabteilung mit blumigen Worten oder auch mit peppigen Influencer-Videos und großzügiger Verwendung von Begriffen wie „ disruption“, „smart“ und „revolutionary“ die Kunden für sich einnimmt.
Das ist eine verpasste Chance. Die Möglichkeit, ein KI-Produkt nach den gerade entstehenden Standards unter anderem für Qualität, Vertrauenswürdigkeit, Resilienz, Genauigkeit oder Erklärbarkeit zu zertifizieren, ist der Innovationstreiber schlechthin. Zertifizierung bestätigt nicht nur die Konformität mit technischer Best Practice und regulatorischen Anforderungen, sondern liefert auch eine höhere Transparenz im Markt, die es den Herstellern guter KI-Produkte leichter macht, sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen, und die es Käufern von KI leichter macht, die richtige Auswahl zu treffen. Selbstverständlich gilt dies nur für KI, die in besonders anspruchsvollen oder besonders riskanten Anwendungen eingesetzt wird, nicht für alle KI-Systeme. Wie auch bei anderen Arten von Produkten auch werden viele – vielleicht sogar die meisten – KI-Produkte ohne Zertifizierung auskommen.
Und noch ein Gedanke zum Schluss: Die europäische Politik hat zu Recht technische und insbesondere auch digitale Souveränität zu einer Priorität gemacht. Es ist eine gewaltige Herausforderung, die bereits bei der Begriffsklärung anfängt. Aber eines ist offensichtlich: Ohne die Möglichkeit, KI-Produkte aus dem internationalen Raum beim Einsatz in Europa unabhängig zu prüfen und europäische Standards auch durchsetzen zu können, kann es keine digitale Souveränität geben. Wenn wir tatsächlich in Europa bei der Nutzung von KI einen eigenen Weg gehen möchten, der europäischen Wertvorstellungen und Prioritäten entspricht, dann brauchen wir neben einer vernünftigen Regulierung und Standardisierung für bestimmte Anwendungen auch die Zertifizierung.