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Wenn die AfD verboten würde: "Um Neuwahlen kämen wir nicht herum"

Markus Thiel
Selbst den Vor­schlag von Frau­ke Bro­si­us-Gers­dorf als Ver­fas­sungs­rich­te­rin sahen AfD und rech­te Me­di­en als Be­weis dafür: Die SPD wolle die AfD nur ver­bie­ten, um da­nach eine rot-rot-grüne Re­gie­rung zu grün­den. Das ist zwar denk­bar, aber sehr un­wahr­schein­lich, er­klärt Mar­kus Thiel.

beck-aktuell: Die Diskussion um ein mögliches AfD-Verbotsverfahren hat jüngst noch einmal eine andere Dynamik erhalten, als einige Medien, aber auch vereinzelte konservative Vertreter aus der Staatsrechtslehre die Vermutung anstellten, ein AfD-Parteiverbot könnte ein politisches Manöver der SPD sein, um Lars Klingbeil ins Kanzleramt zu bringen. Die Erzählung, die auch nach der Nominierung der angeblich verbotsfreundlichen Rechtswissenschaftlerin Frauke Brosius-Gersdorf lanciert wurde, stützt sich darauf, dass bei einem Verbot der AfD deren Abgeordnetenmandate wegfallen würden, was neue Mehrheiten im Bundestag schaffen würde. Ist diese Annahme überhaupt korrekt? 

Prof. Dr. Dr. Markus Thiel: Man muss das differenziert betrachten: Aus Art. 21 Abs. 2 GG, der das Parteiverbot regelt, ergibt sich keine explizite Folge für die Mandate. Es ist damit keine parteienrechtliche Frage, sondern eine parlamentsrechtliche. In den wahlrechtlichen Regelungen gibt es hingegen klare Bestimmungen: Bei Direktmandaten würde bei einem Parteiverbot die Wahl in den Wahlkreisen wiederholt, allerdings wohl nur die Wahl des Wahlkreiskandidaten und nicht die Abgabe der Zweitstimme. Bei Listenmandaten hingegen blieben die Sitze unbesetzt. 

Nun kommt es darauf an, was "unbesetzt" heißt. Man denkt an einen leeren Sitz, der keine wirksame Stimme abgeben kann. Die Kommentarliteratur sagt dazu allerdings, die im BWahlG festgelegte gesetzliche Mitgliederzahl von 630 Bundestagsabgeordneten sei nicht starr und könne sich verringern. Das wären dann – wenn man nur die Listenmandate abzieht – 520 statt 630 Sitzen. Damit würden sich die politischen Mehrheiten im Bundestag in der Tat so verändern, dass eine rot-rot-grüne Mehrheit rechnerisch möglich wäre. 

"Formaljuristisch ginge das wohl"

beck-aktuell: Das klingt nach einem abenteuerlichen Szenario, vor allem, wenn man bedenkt, was das politisch anrichten würde. Aber dazu kommen wir gleich noch. Für wie praktikabel halten Sie diesen Weg aus juristischer Sicht? 

Thiel: Formaljuristisch ginge das wohl. Man könnte gegebenenfalls noch verfassungsgerichtlich klären lassen, ob "unbesetzte" Sitze tatsächlich die gesetzliche Mitgliederzahl reduzieren. Bei veränderten Mehrheitsverhältnissen könnte man nach Art. 67 Abs. 1 GG mit der so entstandenen neuen Mehrheit ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Friedrich Merz aussprechen und einen neuen Kanzler wählen. Es wäre also denkbar.

beck-aktuell: Gäbe es gegen ein Misstrauensvotum des Bundestags ein Rechtsmittel, das die Union einlegen könnte?

Thiel: Ich denke schon, dass man das in einem Organstreitverfahren – etwa wegen eines Verstoßes gegen das freie Mandat nach Art. 38 GG oder in Auslegung des Art. 21 Abs. 2 GG – überprüfen lassen könnte. Aber ich sehe wenig Anhaltspunkte, weil die Verfassung eben vorsieht, dass die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages dem Kanzler das Misstrauen aussprechen kann. Man könnte eventuell noch prüfen, ob die Mehrheit des Bundestages zutreffend berechnet wurde. Ob man ein solches Misstrauensvotum stellt, ist eine politische Entscheidung – verfassungsrechtlich wäre sie nicht per se rechtsmissbräuchlich.

Die von manchen behauptete Motivation auf Seiten der SPD hielte ich – wollte man sie unterstellen – gleichwohl politisch für außerordentlich unredlich und hochproblematisch. Wir hätten nach einem Wegfall der Abgeordneten der AfD einen politischen Ausnahmezustand. SPD, Grüne und Linke haben auch den Auftrag, gemeinsam mit der CDU die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Geschehens aufrecht zu erhalten und das Vertrauen in den Bundestag als Vertretungsorgan des Souveräns nicht zu beschädigen. 

"Der richtige Weg wäre die Vertrauensfrage"

beck-aktuell: Zudem müssten die Parteien, die sich an einem solchen Misstrauensvotum beteiligten, auch politische Konsequenzen erwarten…

Thiel: Ja, es ist damit zu rechnen, dass bei der nächsten Wahl die Quittung dafür käme, und am Ende wäre es fatal, wenn dann bis zu 30 Prozent der Bevölkerung den "III. Weg" wählen oder die Republikaner wieder aufleben lassen würden.

Auch wenn es einzelne Abgeordnete geben mag, die solche Mittel in Erwägung ziehen würden, kann ich mir das insgesamt nicht vorstellen. Ich glaube eher, dass auf Seiten mancher, die das als Gefahr heraufziehen sehen, eher die eigenen politischen Interessen eine Rolle spielen.

beck-aktuell: Was wäre aus Ihrer Sicht stattdessen ein realistisches Szenario? 

Der richtige Weg wäre, die Vertrauensfrage zu stellen, den Bundestag auflösen zu lassen und dann neu zu wählen. Beim Verbot einer Partei mit so vielen Mandaten kämen wir um Neuwahlen nicht herum.

"Eine Partei braucht sogar politisches Gewicht, um die FDGO zu gefährden"

beck-aktuell: Aber spinnen wir den Gedanken kurz zu Ende: Ein Parlament nach einem AfD-Verbot wäre auch eines, das den Wählerwillen kaum noch abbilden würde. Würde das für das BVerfG eine Rolle spielen? 

Thiel: Im eigentlichen Verbotsverfahren wohl nicht. Man könnte gegebenenfalls die Entscheidung über den Mandatsverlust, die dann der Ältestenrat des Bundestags zu treffen hätte, angreifen und überprüfen, ob die wahlrechtlichen Regelungen im Widerspruch zum Grundgesetz stehen. Die meisten halten diese Bestimmungen aber für verfassungsgemäß. Den Fall, dass so viele Mandatsträger ihr Mandat verlieren würden, hatten wir bei den wenigen Parteiverboten in der Geschichte der Bundesrepublik allerdings noch nicht. Deshalb könnte man diese Vorschriften durchaus einmal auf den Prüfstand stellen.

Für das Verbotsverfahren darf es aber – sofern die Voraussetzungen für ein Verbot gegeben sind – keine Rolle spielen, dass die Partei sehr groß und einflussreich ist. Man darf bei verfassungsfeindlichen Parteien nicht davor zurückschrecken, ein Verbot auszusprechen, auch wenn ein Großteil der Bevölkerung sie gewählt hat. Zudem verlangt das BVerfG für ein Verbot gerade eine "Potenzialität", also ein hinreichendes politisches Gewicht, um die freiheitliche demokratische Grundordnung zu gefährden.

"Die Partei müsste ein aktives Verhalten an den Tag legen"

beck-aktuell: Nahrung für die Diskussion über ein Verbotsverfahren lieferte im Mai die Einschätzung des Verfassungsschutzes, dass es sich bei der AfD um eine rechtsextreme Partei handele. Für wie wahrscheinlich halten Sie es – abseits der Spekulationen über sachfremde Motive – , dass die Bundesregierung oder der Bundestag in der aktuellen Lage ein Parteiverbotsverfahren einleiten wird? 

Thiel: Das ist schwer zu prognostizieren. Wichtig ist zunächst der Hinweis, dass das Parteiverbotsverfahren ein verfassungsrechtliches Instrument ist und kein politisches. Es gibt klare Anforderungen, die das BVerfG aufgestellt hat. Eine Partei muss darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen und muss dafür ein aktives Verhalten an den Tag legen. Das BVerfG hat die Anforderungen in der letzten NPD-Entscheidung sehr restriktiv gefasst. Man braucht ein planvolles Vorgehen, eine qualifizierte Vorbereitung, eine Art strategisches Konzept. Damit muss man die vorhandenen Materialien vom Verfassungsschutz erst einmal in Einklang bringen. Es wird noch eine Weile dauern, das absolut hieb- und stichfest zu bekommen. 

"Verfassungsschutzeinordnung und Parteiverbot zwei unterschiedliche Paar Schuhe"

beck-aktuell: Als die Einschätzung des Verfassungsschutzes öffentlich wurde, fühlten sich viele Befürworterinnen und Befürworter eines AfD-Verbots bestätigt. Gleichwohl besteht eine Diskrepanz zwischen der Einstufung durch den Verfassungsschutz und den hohen Anforderungen des Art. 21 GG für ein Verbot. Wo genau liegt der Unterschied? 

Thiel: Das sind zwei völlig unterschiedliche Paar Schuhe. Die Einordnung durch den Verfassungsschutz ist eine rein behördeninterne Klassifizierung. Da gibt es die drei Stufen von Prüffall, Verdachtsfall und gesichert extremistischer Bestrebung. Die Aufgabe des Verfassungsschutzes liegt vor allem in der Sammlung und Auswertung von Äußerungen und anderen Materialien. 

Es finden sich viele Hinweise und Äußerungen darüber, dass es sich bei der AfD um eine problematische Partei mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen handelt. Aber das sind im Wesentlichen Äußerungen von Parteimitgliedern, Funktionären und Anhängern. Um die Voraussetzungen für ein Verbot zu erfüllen, müsste man daraus ein planvolles Vorgehen und ein strategisches Konzept ableiten können. 

Das Parteiverbotsverfahren soll keine verfassungsfeindliche Gesinnung verbieten, sondern ein aktives Verhalten. Entsprechende Äußerungen allein genügen nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht. Wir brauchen ein aktives Vorgehen, das sich aus der Formulierung in Art. 21 Abs 2 GG ergibt, der von einem Ausgehen auf eine Beeinträchtigung oder eine Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung spricht. Andere Regelungen zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sprechen meist von einem "Kampf" gegen sie. So etwas in der Art werden wir hier auch brauchen. 

"Der Verfassungsschutzbericht liefert schon reichlich Material"

beck-aktuell: Glauben Sie, dass das Material, welches der Verfassungsschutz für seine Einschätzung gesammelt hat, dennoch genügt, oder bräuchte es noch andere Quellen? 

Thiel: Ich kenne die Beweislage hinter verschlossenen Türen nicht. Der Bericht des Verfassungsschutzes liefert schon reichlich Material. Es kommt darauf an, wie sich die Mitglieder und die Führungsfunktionäre in der Partei verhalten und äußern. Es gab schon vor dem Bericht des Verfassungsschutzes ein Schreiben von vielen Kolleginnen und Kollegen aus der Staatsrechtslehre, die ein Verbot der AfD gefordert und dazu auch eigenes Material vorgetragen haben.

beck-aktuell: Lässt sich denn überhaupt aus Äußerungen von Politikerinnen und Politikern - öffentlich oder in internen Chats -, die eine bestimmte Geisteshaltung erkennen lassen, ein aktives Moment ableiten?

Thiel: Wenn viele Vertreter dieser Partei in Parlamenten sitzen und sich entsprechend äußern – etwa ein Menschenbild vertreten, das der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes widerspricht – dann hat man durchaus Anhaltspunkte dafür, welche politischen Ziele diese Partei verfolgt. Man darf nicht nur in das Parteiprogramm schauen, denn das ist natürlich "weichgespült". 

Man sieht aktuell auch am Bestreben einiger AfD-Politiker, eine Appeasement-Politik zu betreiben, dass man in der Partei offenbar den Eindruck hat, sich am Rande des Zulässigen zu bewegen. Die Frage ist, ob man für die gesamte Partei zurechenbar eine entsprechende Bestrebung ableiten kann. Wenn sich dies als Gesamtkonzept darstellen sollte, hätte man die Anforderungen des Parteiverbots wohl erfüllt. 

Prof. Dr. Dr. Markus Thiel lehrt Öffentliches Recht an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. Er hat verschiedentlich – als Autor und Herausgeber – zu den Themen Parteiverbot und wehrhafte Demokratie publiziert.

Die Fragen stellte Maximilian Amos.

 

    Aus der Datenbank beck-online

    Huber, Die AfD – Facetten aktueller Rechtsprechung, NVwZ 2024, 119

    OVG Münster, Beobachtung der AfD durch Bundesamt für Verfassungsschutz als Verdachtsfall, NVwZ-Beilage 2024, 94

    Heußner, Die AfD Thüringen auf dem Weg zu einem Parteiverbot?, NJOZ 2024, 993

    Huber, Die AfD als nachrichtendienstlicher Verdachtsfall, NVwZ 2023, 225

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