Dr. Chan-jo Jun ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Informationstechnologierecht, Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshof, Vorsitzender Ausschuss für IT-Recht der Bundesrechtsanwaltskammer und Managing Partner bei Jun Legal.
Sarah Rachut, Grundrechtsverwirklichung in digitalen Kontexten, Berlin (Duncker & Humblot) 2025, ISBN 978-3-428-19305-9, 149,90 EUR
MMR-Aktuell 2025, 02023 Wer eine juristische Doktorarbeit mit einem Umfang von mehr als 700 Seiten liest, macht sich darauf gefasst, zu einem begrenzten Thema viel mehr zu erfahren, als man unbedingt wissen wollte. Die Dissertation von Sarah Rachut hinterlässt mich als politischen Praktiker jedoch mit dem dringenden Bedürfnis, die Erkenntnisse und Appelle so schnell wie möglich in die Tat umzusetzen; sei es als Empfehlung an den Gesetzgeber oder nur als Argumentation für die nächste Klageschrift gegen einen Plattformbetreiber, der mit der europäischen Vorstellung von Grundrechten am liebsten gar nichts zu tun haben will.
Als Jurastudent lernt man im zweiten Semester, dass Grundrechte nicht gegenüber anderen Bürgern, sondern gegenüber dem Staat durchgesetzt und verwirklicht werden, da dort das strukturelle Machtgefälle durch das Rechtsstaatsprinzip eingehegt wird. Heute sind es jedoch internationale Unternehmen, die die Macht darüber ausüben können, welche Positionen wir lesen und verbreiten dürfen. Der Staat hat die Steuerungshoheit eingebüßt und ist auf der Plattform nur ein weiterer User, während seine Regelungen, soweit sie über die Gemeinschaftsregeln der Plattformbetreiber hinausgehen, bestenfalls ignoriert, häufig politisch bekämpft werden. Der nationale Staat ist nur einer von vielen Akteuren neben anderen Staaten, Werbekunden, Shareholdern und User Communities, die versuchen ihre Bedürfnisse durchzusetzen. Digitale Technologien schaffen eine normative Kraft des Faktischen auf sozialen Medien. Die Plattformen legen in ihren AGB fest, welche Verhaltensweisen und Vokabeln in Videos erlaubt sind oder zum Entzug der Monetarisierung führen. Ein Beispiel außerhalb des Meinungsdiskurses ist das Geschäftsmodell von Uber. Der Fahrdienstvermittler passte nicht in die herkömmliche Taxiregulierung und letztlich musste sich der Gesetzgeber anpassen, nicht das Start-up. Dass es hierbei an demokratischer Legitimation fehlt, interessiert die wenigsten Fahrgäste oder Plattformnutzer.
Im Schutzbereich von Grundrechten wird das Fehlen von Legitimation auch zum Fehlen jeglicher Kontrollmöglichkeiten. Der Staat erlebt, dass das durch Untätigkeit entstandene Machtvakuum zu Gewöhnungseffekten und zur Unumkehrbarkeit eingetretener Entwicklungen führt. Die algorithmische Timeline und personalisierte Werbung hat so viel Akzeptanz gewonnen, dass die plötzliche Anwendung von Datenschutzvorschriften, die schon immer vorhanden waren, als übergriffige Bevormundung des Staates empfunden wird. Der Schutz der Menschenwürde vor übler Nachrede und Beleidigung ist längst nicht unangefochtener Konsens in der digitalen Gesellschaft, sondern aus Sicht des privaten Akteurs eine Lästigkeit, mit der attraktiver Content beschränkt wird.
In dieser Problembeschreibung können wir uns alle wiederfinden, aber Rachut bietet konkrete Lösungshinweise. Wer die Dringlichkeit des Problems verstanden hat, kommt unweigerlich zu der Erkenntnis, dass wir schnell eine der vorgeschlagenen Lösungen aufgreifen oder eine noch bessere entwickeln sollten.
Rachut lehnt es zwar ab, Grundrechtsverpflichtung im Grundsatz auf private Akteure auszudehnen, spricht sich jedoch für eine verstärkte mittelbare Drittwirkung von Grundrechten bei solchen privaten Akteuren aus, die durch ihre erhebliche Marktmacht faktisch über eine Steuerungsmacht verfügen, die mit der des Staats vergleichbar ist. Ansätze dafür gibt es bereits in der Rechtsprechung, etwa beim Recht auf digitalen Nachlass oder bei Accountsperrungen, wo die diesbezüglichen AGB von der Rechtsprechung als unwirksam angesehen wurden. Diese Entscheidungen führten jedoch nicht dazu, dass Plattformbetreiber die Rechtsprechung auf jene Nutzer erstreckten, von denen sie gerade nicht verklagt wurden. Das Zivilrecht gerät hier an seine Grenzen, weil es nur zwischen den Parteien wirkt und Unternehmen darauf vertrauen können, dass die allerwenigsten Nutzer ihre Grundrechte durch drei Instanzen geltend machen. Der Staat müsse hier tätig werden, um seine Gestaltungsspielräume mit Recht zu füllen. Ansonsten überlässt er die Macht den nicht demokratisch legitimierten Akteuren. Dabei plädiert Rachut für den Einsatz von Technologie, Experimentierräume und Reallabore, sowie dem Ansatz „Recht by Design“.
Zudem sollen staatliche Regulierungsbehörden befugt werden, Verstöße gegen Grundrechte proaktiv zu sanktionieren. Hier beginnt der unangenehme Teil der Wahrheit, da die Verwirklichung von Grundrechten weder durch runde Tische noch durch Gesetze oder Richtlinien umgesetzt wird. Der Staat muss sich für die Wirksamkeit der Grundrechtsdurchsetzung am Ergebnis messen lassen, will er seiner Schutzpflicht gerecht werden. Rachut geht noch einige Ebenen tiefer in die Konzeption von Regeln zur Moderation von Inhalten und Ombudsverfahren – Konzepte, die in europäischen Verordnungen zum Teil schon angelegt sind, in der Praxis jedoch von den Unternehmen trickreich getunnelt werden.
Zur Grundrechtsverwirklichung zählt zudem, dass der Einsatz von und der Umgang mit digitalen Technologien auf staatlicher Seite überdacht werden muss, möchte man Gestalter und nicht nur Spielball sein. Dies bedeutet u. a., so Rachut, dass auch die Möglichkeiten digitaler Technologien zum Grundrechtsschutz in eine Abwägung eingepreist werden müssen.
Keine Lösung sieht Rachut in der Formulierung digitaler Grundrechte-Chartas auf supranationaler Ebene. Solche Ansätze schaffen zwar Gelegenheit für Diskussionen, bringen uns jedoch bei der Verwirklichung der Grundrechte nicht weiter. Rachut geht davon aus, dass digitale Grundrechte nicht zwingend neu kodifiziert werden müssen, sondern dass das bestehende Mehrebenensystem der Grundrechte bereits einen dynamischen Schutz bietet. Die Verwirklichung von Grundrechten scheitert schließlich nicht daran, dass sie im Grundgesetz oder der Europäischen Menschenrechtskonvention noch zu analog formuliert sind, sondern daran, dass Grundrechte schlicht nicht beachtet werden.
Rachuts Dissertation hebt sich von anderen wissenschaftlichen Arbeiten dadurch ab, dass sie nach der ausführlichen Analyse des Problems die Lösungsansätze nicht lediglich in einem Ausblick oder einem Schlusswort andeutet. Das sind die Stellen, wo für gewöhnlich wenig Fundstellen aus anderen Arbeiten zitiert werden können, sondern eigene wissenschaftliche oder praktische Expertise nötig ist, um Vorschläge zu unterbreiten, die nicht sofort als naiv entlarvt werden. Hier merkt man, dass Rachut eigene Erfahrung in der Erstellung von Gesetzesvorschlägen, etwa für die Digitalisierung der Verwaltung und das Prüfungswesen, mitbringt. So hinterlässt Rachuts Arbeit den Leser einerseits mit einem quälenden Problembewusstsein, gibt ihm andererseits aber konkrete Lösungsvorschläge an die Hand. Diese verzichten darauf, eine schillernde Vision für einen dogmatischen Umsturz der Grundrechtssystematik aufzumalen, sondern – und das macht die bisherige Untätigkeit so beschämend – unterbreiten greifbare Konzepte, die heute umgesetzt werden könnten und müssen, bevor die Machtverschiebung zulasten der Grundrechtsverwirklichung unumkehrbar wird.
Rachuts Gedankenführung von Problemaufriss, Komplikation hin zu den Lösungsansätzen ist durchweg stringent. Sie geht das Risiko ein, klare Stellung zu beziehen und Lösungen, die zu kurz springen, auch zu verwerfen, anstatt dem Leser mit der aufgeworfenen Komplexität alleine zu lassen. Die ausführlichen dogmatischen und rechtshistorischen Herleitungen und die Einordnung der Grundrechte im ersten von vier Teilen holt den Leser noch mit bekanntem Wissensstand ab. Spätestens bei der Einordnung der digitalen Sachverhalte werden bekannte Bauklötze zu neuen Strukturen zusammengesetzt und zeigen dabei ihre bisher übersehenen Ecken und Kanten. Die Lösungen zu den aufgeworfenen Herausforderungen im dritten Teil sind der wertvollste Beitrag zur juristischen Forschung und Grundlage für kontroverse Diskussionen oder besser: schnelle Umsetzungen.
Eine Wohltat ist dabei die moderne, schnörkellose, aber dennoch stets präzise Sprache, die auf die juristische Unart verzichtet, die ohnehin schon überwältigende Komplexität der Problemstellungen noch durch verschachtelte Negationen unnötig zu überhöhen. Das Werk ist auf dem letzten technischen und juristischen Stand der Entwicklungen von KI-Entwicklung und Regulierung, der richtige Zeitpunkt um es zu lesen ist daher heute.