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Erfahrungsbericht JA 1/2023

Von Wiss. Mit. Marlon Dreisewerd, Universität Bielefeld | Dez 22, 2022

Legal Tech als neues Grundlagenfach der juristischen Zukunft?


A. Das Jurastudium in Zeiten der Digitalisierung

Wer derzeit Jura studiert, kommt zwangsläufig auch während des Studiums mit der Digitalisierung in Berührung. Ob digitale Datenbanken, digitale Stundenpläne oder Online-Klausuren – ein Studium ohne diese digitalen Neuerungen ist heute schwer vorstellbar geworden. Jedoch ist die Digitalisierung nicht nur als Werkzeug, sondern auch ihr Inhalt und ihre Auswirkung sind für das juristische Studium interessant. Die vermehrten Urteile aus der jüngeren Rechtsprechung des BGH – wie »wenigermiete.de« (BGH NJW 2020, 208) und »smartlaw« (BGH NJW 2021, 3125) – zeigen, dass insbesondere auch das Thema »Legal Tech« bereits in der juristischen Praxis angekommen ist.

Denjenigen, die Fähigkeiten im Digitalisierungsrecht erwerben, werden für die Zukunft wegen der wachsenden  Bedeutung der Digitalisierung häufig herausragende Perspektiven für das Berufsleben vorausgesagt. Viele Studierende haben bereits aus ihrem Alltag einen natürlichen Zugang zur Digitalisierung, weil sie selbst Nutzer von Smartphones, Computern und Fernsehern sind. Daher entsteht bei diesen Studierenden die Frage, wie sie die Digitalisierung – dazu gehört »Legal Tech« – auch inhaltlich im Studium behandeln können. Der Erwerb digitaler Kompetenzen und Kenntnisse ist in einzelnen Bundesländern bereits ein gesetzliches Ziel und Gegenstand des juristischen Studiums geworden, vgl. § 7 II 1 JAG NRW, § 23 II 2 BayJAPO.

Jedoch deutet eine Studie aus dem Frühjahr 2020, die im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung von Prof. Dr. Heribert M. Anzinger (Universität Ulm) angefertigt worden ist, darauf hin, dass im Ausbildungsbereich in Deutschland hinsichtlich des Themenfeldes »Legal Tech« ein dringender Handlungsbedarf besteht. An deutschen Universitäten wird diesem Handlungsbedarf auf unterschiedliche Weise nachgekommen. An der Universität Passau gibt es beispielsweise einen eigenen Bachelorstudiengang mit dem Titel »Legal Tech«, der auf acht Semester Regelstudienzeit konzipiert ist. An der Universität Regensburg können Studierende einen Masterstudiengang über zwei Semester zuzüglich Masterarbeit belegen.

B. Neue Legal Tech-Vorlesung an der Universität Bielefeld

Seit dem Wintersemester 2022/2023 wird an der Universität Bielefeld eine neue Vorlesung mit dem Titel »Legal Tech« angeboten, die sich an alle Studierenden der Rechtswissenschaft richtet, die Interesse am Aufbau und der Vertiefung von Kenntnissen und Kompetenzen im Bereich zwischen Recht und Technik haben. Die Vorlesung wird von Prof. Dr. Paul T. Schrader gehalten, der an der Universität Bielefeld den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und das Recht der Digitalisierung und Innovation innehat. Die Vorlesung ist bewusst nicht in den an der Universität Bielefeld angebotenen Schwerpunktbereich 9 »Wettbewerb, Digitalisierung und Innovation« eingegliedert, um auch Studienanfänger mit der Thematik anzusprechen. Damit wird den Studierenden – unabhängig vom individuellen Fortschritt im Studium – die Möglichkeit geboten, über die bloße Nutzerperspektive hinausgehende Einblicke zu erhalten. Der Schwerpunkt dieser Einblicke liegt bei den technischen Grundlagen. Mit diesen Einblicken sollen die Studierenden in die Lage versetzt werden, die digitalen Abläufe und Prozesse selbst zu verstehen und im juristischen Alltag anzuwenden.

Dieser Ansatz, zunächst die Tatsachen verstehen zu wollen, um erst im Anschluss eine (juristische) Bewertung vorzunehmen, spiegelt sich auch im Ablauf der Vorlesung wider. Die Vorlesung ist in drei Teile gegliedert. Zunächst werden in einem ersten Teil die technischen Grundlagen behandelt, wobei zwar keine Vorkenntnisse vorausgesetzt werden, die Möglichkeit zur Vertiefung jedoch regelmäßig aufgezeigt wird. Die Studierenden werden in dieser Phase beispielsweise an die begrifflichen Unterschiede zwischen »Daten, Informationen und Wissen« herangeführt, um mit diesem Wissen die Grundlagen derzeit üblicher Datenverarbeitung (einschließlich Datenbankmanagementsystemen)  zu umreißen. Im Anschluss werden in einem zweiten Teil die juristischen Methoden und Grundlagen der Rechtsanwendung behandelt, wobei hier ein Fokus auf den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zur Datenverarbeitung gelegt wird. Erst am Ende der Vorlesung werden dann im dritten Teil die aktuell in der Rechtspraxis zu beobachtenden Entwicklungen von Legal Tech thematisiert. Dabei wird auch näher auf die bisherige Rechtsprechung und die Gesetzgebungsaktivitäten eingegangen. 

Der Vorteil dieses Vorgehens liegt darin, dass die Studierenden nicht bloß die bisherige Rechtsprechung, Gesetzgebung und Geschäftsmodelle kennen- und bewerten lernen, sondern auf Grundlage eigener technischer Kenntnisse auch eigenständige Argumentations- und Bewertungsmuster entwickeln können, um etwa künftige, derzeit noch unbekannte Erscheinungsformen von Legal Tech einordnen und gegebenenfalls antizipieren zu können. 

C. Die abstrakte Materie »Legal Tech« anhand konkreter Beispiele verstehen

Die gewählte Vorlesungskonzeption beruht auf einer Spiegelung des Begriffs: »Legal Tech« ist ein zusammengesetzter  Begriff aus »Legal« und »Tech«. Der Begriff »Tech« ist dabei der Oberbegriff, welcher durch »Legal« näher konkretisiert wird. Es geht damit im Kern um den Einsatz von Technik, konkret um den Einsatz von Technik in juristischen Bereichen. Dabei werden zahlreiche Fragen aufgeworfen, bei dessen Untersuchung der Besuch der Vorlesung helfen soll. Dieses Aufwerfen und die Näherung an teils komplizierte (häufig auch philosophische, soziologische oder psychologische) Fragestellungen ist ein Kernziel der Vorlesung, auch wenn die endgültige (klare) Beantwortung dieser Fragen häufig offenbleibt. Dies soll zum Selbst- und Weiterdenken anregen. Die Vorlesung dient vor allem als Diskussionsplattform und dem damit verbundenen Erwerb »digitaler Kompetenz«. 

Zur Veranschaulichung werden in der Vorlesung stets auch konkrete Beispiele untersucht, damit ein Verständnis der abstrakten Materie erleichtert wird. Die Beispiele, die in der Vorlesung näher beleuchtet werden, verdeutlichen die häufigen Überschneidungen von Technik und Recht. Werden etwa für das juristische Studium Bücher gebraucht, können diese aus einer Bibliothek ausgeliehen werden. Aufgrund der schieren Masse an Büchern wird der Inhalt einer Bibliothek heutzutage von einer Datenbank erfasst, was die Übersichtlichkeit und Handhabbarkeit verbessert. Im Rahmen der Vorlesung werden Datenbanken und dessen Struktur genauer untersucht und (anfangs) nachgebaut. Die Studierenden bekommen dadurch ein Verständnis, wie die Organisation einer Bibliothek funktioniert (das heißt die Funktionsweise eines OPAC). Aus der bloßen Nutzerperspektive, aus der Studierende normalerweise eine Bibliothek betrachten, lassen sich diese Zusammenhänge häufig nicht einfach so erkennen.

Weiterhin werden die Studierenden in der Vorlesung auch angeleitet, einen Subsumtionsautomaten zu programmieren. Mit diesem können einfach gelagerte Fälle gelöst werden (beispielsweise zur Bestimmung des Status der  Geschäftsfähigkeit). Recht deutlich werden aber auch die Grenzen eines solchen Vorhabens: Der Subsumtionsautomat »subsumiert« nur das, was vorher im Programm durch den Programmierer angelegt wurde. Andere Fragen, etwa solche, die implizit mitgedacht werden müssen, werden ausgeklammert. Dies betrifft zum Beispiel die Rechtsfähigkeit, die bei einer Anspruchsprüfung oder der Bestimmung der Geschäftsfähigkeit anhand des Alters zwar häufig, jedoch nicht immer erfüllt ist. Des Weiteren wird den Zuhörern durch das Beispiel des Subsumtionsautomaten nähergebracht, dass ein Rechner »nur« rechnet und (jedenfalls nach aktuellem Stand der Technik) nicht selbst Wertungsentscheidungen treffen oder eine Begriffsbildung vornehmen kann, was jedoch zur juristischen Kerntätigkeit gehört. Weil diese Bereiche derzeit nicht von einer Maschine übernommen werden können – auch nicht mit Systemen künstlicher Intelligenz, die häufig zwar Muster in vorliegenden Entscheidungen finden, jedoch diese nicht wertend auf den Einzelfall übertragen können –, verbleibt damit weiterhin für Menschen diese Aufgabe. Diese Erkenntnis ist für die Beantwortung der Frage überaus hilfreich, ob Juristen bald vollständig von Maschinen ersetzt werden (können) und ist ein Lernziel der Veranstaltung.

D. Ausblick

Die Vorlesung »Legal Tech« findet im derzeitigen Wintersemester 2022/2023 erstmals statt. Es bleibt zu wünschen, dass sie in den regelmäßigen Semesterplan aufgenommen wird und somit die Entwicklung in diesem Bereich auch von weiteren Generationen von interessierten Studierenden kritisch verfolgt, verstanden und letztlich auch mitgestaltet werden kann. Möglicherweise werden die Grundzüge der Veranstaltung – so wie von einigen Teilnehmern der Veranstaltung gewünscht – in ein Buchprojekt einfließen, damit die Herangehensweise einer von Verständnis geprägten, kritischen Mitgestaltung der Automatisierung im Rechtswesen auch einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden kann.

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