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Erfahrungsbericht JA 7/2019

Von Dr. Julian Titze, Maîtrise en droit, LL.M. | Jun 17, 2019

Curia incognita? – Wahlstation am Gerichtshof der Europäischen Union


Von Oktober bis Dezember 2018 verbrachte ich meine Wahlstation im Kabinett von Herrn Egils Levits, dem lettischen Richter am Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH). Dies war eine ungemein spannende und lehrreiche Erfahrung. In nur drei Monaten konnte ich hochaktuelle mündliche Verhandlungen zum Brexit oder zur deutschen Pkw-Maut verfolgen, Gutachten in anhängigen Rechtssachen entwerfen und nicht zuletzt Kontakte zu exzellenten Juristinnen und Juristen (es sind stets Personen jedes Geschlechts gleichermaßen gemeint; aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird im Folgenden nur die männliche Form verwendet) aus ganz Europa knüpfen. Unter den Praktikanten am EuGH sind Franzosen und Belgier deutlich in der Überzahl. In diesem Beitrag möchte ich gerne meine positiven Eindrücke weitergeben und die Möglichkeit einer Ausbildungsstation bei den Gerichten der Europäischen Union unter Studierenden und Referendaren in Deutschland bekannter machen.

Bewerbungsverfahren


Auf der Website des EuGH finden sich nur Informationen zu fünfmonatigen vergüteten Praktika in der Gerichtsverwaltung und neuerdings auch in den Kabinetten der Richter. Aufgrund ihrer Dauer dürften diese Praktika lediglich zwischen Studium und Referendariat in Betracht kommen. Im Rahmen der Ausbildung als Referendar sollte man sich dagegen unmittelbar bei den Mitgliedern des Gerichtshofs für eine kürzere, nicht vergütete Station bewerben. Je nach Bundesland kann man während der Zivilstation, der Verwaltungsstation, der Anwaltsstation oder in jedem Fall der Wahlstation an den EuGH kommen. Abgesehen von der Dauer ihres Aufenthaltes und der Vergütung sind Referendare und Praktikanten am EuGH als »stagiaires« gleichgestellt. Zahlreiche Bewerber aus Deutschland wenden sich zunächst an die deutschen Kabinette. Aufgrund der Vielzahl der eingehenden Bewerbungen, leitet das Kabinett der deutschen Generalanwältin Juliane Kokott geeignete Bewerbungen, die neben einer guten juristischen Qualifikation auch die notwendigen Französischkenntnisse nachweisen, an andere Richter weiter, wenn die eigenen Aufnahmekapazitäten erschöpft sind. So kam ich zu meiner Ausbildung im Kabinett des lettischen Richters Egils Levits. Man kann sich aber auch unmittelbar an die Kabinette von Richtern aus anderen Mitgliedstaaten wenden. Die Kommunikation erfolgt in der Regel auf Französisch, und es empfiehlt sich ein Vorlauf von einem Jahr.
  
Wer gerne mit anderen Praktikanten zusammen wohnt, sollte sich nach einer Zusage  schnellstmöglich um einen Platz in einem Wohnheim der Organisation »Wunnraum fir Stagiairen« (wfs.lu) bewerben. Für Luxemburger Verhältnisse sind die Preise im Rahmen. Günstiger ist es zwar, aus Trier mit dem Bus zu pendeln, dann verpasst man allerdings weitgehend die gemeinsamen Aktivitäten der Praktikanten.

Arbeitsabläufe am Gerichtshof


Aus dem Studium bekannt waren mir die Aufgaben des EuGH, namentlich die Auslegung des Unionsrechts im Rahmen von  Vorabentscheidungsverfahren, die Überwachung der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren und in bestimmten Fällen die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe der Europäischen Union im Rahmen von Nichtigkeitsklagen. Die praktischen Arbeitsabläufe am EuGH waren mir hingegen, obwohl ich mich im Laufe meines Studiums und meiner Promotion intensiv mit dem Unionsrecht beschäftigt hatte, weitgehend unbekannt.
  
Die Richter und Generalanwälte am EuGH beschäftigen in ihren Kabinetten mehrere Rechtsreferenten (référendaires) und Assistenten, dazu maximal einen stagiaire und zeitweise abgeordnete Richter aus den Mitgliedstaaten. Die Behandlung der am EuGH eingehenden Rechtssachen kann wie folgt umrissen werden (wer sich weitergehend für die Binnenorganisation des Gerichtshofs interessiert, dem sei die Lektüre des Aufsatzes Kokott/Sobotta EuGRZ 2013, 465 empfohlen): Anders als in Deutschland werden die Fälle nicht im Rahmen eines Geschäftsverteilungsplans, sondern nach Ermessen des Präsidenten auf die einzelnen Richter als Berichterstatter verteilt. Die Verträge sehen keine Spezialzuständigkeiten einzelner Kammern vor, de facto werden Fälle aus bestimmten Rechtsgebieten aber wiederholt den gleichen Berichterstattern zugewiesen. Dem Berichterstatter, der auch im Urteil als solcher kenntlich gemacht ist, kommt im Folgenden eine zentrale Rolle zu. Er verfasst auf der Grundlage der Akte einen Vorbericht (rapport préalable), der die anderen Mitglieder des Gerichtshofes kurz und bündig über die rechtliche Tragweite des Falls und dessen Komplexität informieren soll. Auf dieser Grundlage spricht der Berichterstatter einen Vorschlag aus, welche Kammer über den Fall entscheiden sollen und ob Schlussanträge eines Generalanwalts erforderlich sind. Im Rahmen der wöchentlichen Vollversammlungen der Richter (réunions générales) werden Streitfälle diskutiert. Nach der mündlichen Verhandlung erstellt der Generalanwalt in eigener Verantwortung Schlussanträge, welche eine eingehende Analyse und Lösung des Falls im Lichte der Rechtsprechung enthalten. Der Berichterstatter erstellt im Folgenden einen Urteilsentwurf, der innerhalb der Kammer beraten und schließlich verkündet wird.
  
Meine Station im Kabinett von Herrn Levits erwies sich in inhaltlicher und persönlicher Hinsicht als besonderer Glücksfall. Ich wurde sehr herzlich aufgenommen und umfassend in die tägliche Arbeit einbezogen. So sollte ich zunächst die Vorberichte aller anderen Mitglieder des Gerichtshofs sichten und Auffälligkeiten notieren. Diese Aufgabe verschaffte mir einen guten Überblick über die Breite der anstehenden Fälle, mit denen der Gerichtshof befasst ist. Bei Meinungsdifferenzen zwischen einzelnen Richtern durfte ich Fälle dann aufbereiten und im Rahmen von Kabinettsbesprechungen (auf Englisch) mit eigenem Lösungsvorschlag präsentieren. Im Vorfeld von mündlichen Verhandlungen durfte ich Herrn Levits in ähnlicher Form »briefen«, um seine Vorbereitung der Akte zu erleichtern. Herrn Levits Interesse an meiner persönlichen Einschätzung habe ich als besonders wertschätzend empfunden.
  
Nach kurzer Zeit durfte ich auch selbst Gutachten zu Rechtssachen auf Französisch entwerfen. Dabei habe ich im Rahmen meiner Station an drei Rechtssachen gearbeitet, deren Inhalt kaum unterschiedlicher sein könnte. In einem Fall handelte es sich um ein Vorabentscheidungsverfahren zur gegenseitigen Anerkennung von Führerscheinen, in einem weiteren Fall aus dem Agrarrecht ging es um die Zahlungsströme bei der Milchabgabe. Höhepunkt meiner Station war der vollständige Entwurf eines Vorberichts und möglicher Urteilspassagen in einem Binnenmarktfall. Die Entwürfe hatten ein Vertragsverletzungsverfahren zum Gegenstand und behandelten die Vereinbarkeit reduzierter Verbrauchssteuersätze mit dem Europäischen Binnenmarkt (Art. 110 AEUV) und dem einschlägigen Sekundärrecht. Dazu wertete ich über Wochen hinweg die Akte des Falls selbstständig aus und verfasste auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung einen Votumsentwurf zur Bewertung und rechtlichen Lösung des Falls.

Die Atmosphäre am Gerichtshof


Ein besonderes Erlebnis war auch die Atmosphäre am Gerichtshof. Diese äußert sich zunächst im Sprachenregime der Institution. Da Herr Levits lange Zeit in Deutschland gelebt hat, wird in den Besprechungen seines Kabinetts Englisch und Deutsch gesprochen. Über die Kabinette hinaus ist am Gerichtshof dagegen das Französische dominierend. Wie bereits angeklungen, werden alle internen Dokumente des Gerichtshofs (Vorberichte, Urteilsentwürfe) ausschließlich auf Französisch verfasst und beraten. Damit aber noch nicht genug der Sprachenvielfalt. In der Akte des von mir bearbeiteten Vertragsverletzungsverfahrens waren Dokumente und Anschreiben der Kommission nur in der Amtssprache des  verklagten Mitgliedstaats verfügbar. In solchen Fällen müssen zusätzliche Übersetzungen durch den Sprachendienst angefordert werden – oder man hilft sich pragmatisch unter den Praktikanten aus.
  
Überhaupt gab es viel Austausch zwischen den rund 50 Praktikanten, die gleichzeitig mit mir am Gerichtshof bzw. dem Gericht tätig waren. Neben dem gemeinsamen Mittagessen organisierten unsere »Präsidentinnen« verschiedene Exkursionen und natürlich Afterworks. Wie bereits erwähnt, kommt ein großer Anteil der Praktikanten aus Frankreich oder Belgien. Das liegt nicht nur an den Sprachkenntnissen, sondern auch der gezielten Vermittlung von Praktikumsplätzen an die Studierenden bestimmter Masterstudiengänge in Frankreich.
  
Insgesamt erschien mir die Arbeitskultur am EuGH recht »romanisch« geprägt. Dies äußert sich in Form und Umgang, der Wertschätzung einer echten Mittagspause – und zum Teil in ausgeprägten Hierarchien. Als Praktikant hat man dabei das Privileg, nicht nur die schmackhafte Kantine des Gerichtshofs mit offenem Wein und einer Auswahl leckerer Desserts, sondern auch das Fitnessstudio im Untergeschoss des Gerichts benutzen zu dürfen. Besondere Anlässe werden durch Empfänge begangen. So organisierte der Sprachendienst zum Jahrestag der  Unabhängigkeit Lettlands einen gelungenen Umtrunk mit lettischen Spezialitäten und Trachten, der mir in guter Erinnerung bleibt. Unvergessen bleibt auch der »Kitsch-Pullover«-Contest des Betriebsrates zur Weihnachtszeit.

Fazit


Die Wahlstation am Gerichtshof der Europäischen Union war für mich in fachlicher und persönlicher Hinsicht die spannendste Ausbildungsstation meines Referendariats. Kenntnisse der internen Arbeitsabläufe und des Sprachenregimes am EuGH sind für das Verständnis von Schlussanträgen der Generalanwälte und Urteile des Gerichtshofs erhellend. Gerade wer die französische Fachsprache beherrscht oder sich intensiver mit dem Unionsrecht befasst hat, wird von einer Ausbildungsstation oder einem Praktikum am EuGH ungemein profitieren. Ich kann einen solchen Aufenthalt, gerade im Kabinett von Herrn Levits, wärmstens empfehlen. Natürlich ist die Zahl der Plätze beschränkt. Es kann sich daher lohnen, auch Bewerbungen an Kabinette des Gerichts (EuG) oder dessen Verwaltung zu richten.

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